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Das Land des letzten Orakels

Titel: Das Land des letzten Orakels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Whitley
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malte sie sich aus, wieder mit Mark zusammenzukommen, mit ihren anderen Freunden, stellte sich vor, wie die Prophezeiung des Mitternachts-Statuts zerrissen und auf der Straße zertrampelt würde. Einen herrlichen Moment lang war alles wunderschön.
    Dann hob das Orakel die behandschuhte Hand. »Aber zuerst der Preis«, sagte sie. »Wahrheit bringt Wahrheit hervor; kein Wissen ist unentgeltlich. Das ist die Lebensart von Naru.«
    Lily nickte hastig. »Ja, ja, natürlich. Was möchtest du wissen? Ich bin überall in den Welten oben herumgereist. Es muss vieles geben, was ich dir berichten kann.« Sie zermarterte sich das Gehirn. »Du hast sicher von Giseth gehört, aber weißt du, wie es sich anfühlt, wenn man das Morgenrot im Frühling erblickt? Frisch und klar und hell …«
    »Das weiß ich«, ertönte die Antwort, hart und endgültig.
    Lily war bestürzt. Sie versuchte es erneut. »Weißt du von dem Alptraum? Von all den Dingen, die ich in meinen Träumen sah, als er mich in seinem Griff hatte? Mein Freund Laud tauchte darin ständig auf, er hatte Augen, die glänzten, und …«
    »Ich weiß.«
    »Oh …« Lily stockte. Das Hohelied konnte sogar Träume sehen? Das war nicht fair. Sie grub tiefer in ihrer Vergangenheit, ganz tief, bemüht, auf etwas zu stoßen, das nicht erinnerungswürdig war, etwas vollkommen Unwichtiges. Es sei denn natürlich, man versuchte jemandem zu gefallen, der glaubte, schon alles zu wissen. »Als ich ein kleines Mädchen war«, begann Lily, »damals im Waisenhaus, da gab es so eine Ecke. Wir drängten uns alle in diesen winzigen Räumen, aber in diese Ecke setzte sich keiner von uns. Warum, habe ich nie erfahren. Ich habe erst heute darüber nachgedacht; es war, als hätten wir Angst davor gehabt …«
    »Ich weiß.« Die Stimme klang weder verärgert noch überdrüssig, sondern benannte lediglich eine Tatsache. »Ich kenne alles Gesprochene in den Ländereien oben und auch alles Gedachte, Gefühlte und Geträumte. Der Chor singt das, was auf der Welt gesagt wird, und das Hohelied flüstert alles, was verborgen ist.«
    Lily hielt inne. Sie spürte die Kraft, die in den Augen des Orakels hinter deren silbriger Maske lag. Sie ließ den Kopf hängen, und ihre Zuversicht schwand dahin.
    »Was also kann ich dir geben?«, fragte sie leise.
    »Eine Sache«, erwiderte das Orakel in so eisigem und unpersönlichem Ton wie zuvor. »Eine Tatsache. Ein Geheimnis, etwas Winziges, aber etwas, das vor mir verborgen wurde. Meinem Gedächtnis weggenommen. Das Hohelied wird es mir erst zeigen, wenn es mir direkt berichtet wird, und ich muss es wissen.« Das Orakel bewegte den Kopf, und obwohl Lily durch die glitzernde Maske nicht ihr Gesicht erkennen konnte, spürte sie doch die Kraft, die in dem starren Blick des Orakels lag.
    »Natürlich!«, sagte Lily und breitete die Arme aus. »Was ist es? Was weißt du nicht?«
    Das Orakel gab keine Antwort. Lilys Worte hallten überall in der Felskammer wider und kehrten verzerrt und höhnisch zu ihr zurück. Weißt du nicht? Nicht … weißt … du … nicht … weiß …
    Etwas stimmte hier nicht. Das Orakel war wieder verstummt, unerbittlich, ruhiger als es irgendeinem Menschen möglich war. Lily fühlte sich an den Leichnam des Bischofs der Verlorenen erinnert, der für ewig auf seinem Thron saß. Hätte sie das Orakel nicht zuvor sprechen gehört, hätte sich Lily gefragt, ob sich überhaupt etwas hinter dieser Kristallmaske befand.
    Dann ging es ihr auf.
    »Du weißt es nicht, nicht wahr?«, sagte sie überrascht. »Du weißt noch nicht einmal, was das für ein Geheimnis ist. Und du erwartest von mir, es dennoch herauszufinden?«
    »Sage es mir.« Das Orakel beugte sich vor, und einen Moment lang vernahm Lily ein Zittern in dieser harten, distanzierten Stimme. Ein von Gefühl ausgelöstes Zittern, auch wenn sich nur schwer sagen ließ, welchem Gefühl es entsprang. »Wahrheit bringt Wahrheit hervor. Sage es mir! Sage es mir!«
    Die Stimme des Orakels wurde höher, es klang wie ein gebieterischer Befehl. Die Wände der Kammer ließen sie widerhallen, und der Mittelpunkt loderte hell auf und erleuchtete den Kopfschmuck des Orakels. Lily spürte, wie eine weitere Welle der Übelkeit sie erfasste, während die Vibrationen von der Stimme des Orakels den felsigen Weg erbeben ließen. Lily sank auf Hände und Knie nieder.
    »Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll! Bitte, kannst du mir nicht einen Hinweis geben?«
    »Eine Wahrheit«, sagte das Orakel, nicht weniger

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