Das Land des letzten Orakels
kein langer Brief, und zunächst war sie erleichtert gewesen zu erfahren, dass es Mark auch ohne ihre Hilfe gelungen war, nach Agora zurückzukehren. Sie war sich sicher, dass Pete ihr lediglich schrieb, um sich bei ihr zu bedanken. Doch als sie den Rest überflog, verfinsterte sich ihre Miene. Erneut bat er sie um Hilfe, dieses Mal, um Lily zu finden. Woher sollte sie wissen, wo Lily war? Hatte sie denn nicht Jahre über sie gewacht? Hatte der Direktor sie denn nicht gezwungen, Lily aus der Stadt zu schicken, auch wenn ihr das das Herz brach? Pete hatte seinen Sohn zurück; er hatte kein Recht dazu, sich auch noch über Lily Sorgen zu machen. Sie gehörte nicht zu seiner Familie.
Nein, Lily gehörte zu ihrer Familie, denn Lily war die Tochter ihres Bruders.
Ihr Bruder war tot.
Und das – bedeutete für sie alles .
Verity hatte nicht vorgehabt zu antworten. Wäre nicht der Besucher gekommen, hätte sie nach wie vor nach außen und nach innen die Arbeit der Sekretärin des Direktors erledigt und stumm ihre Pflicht getan. Dann aber hatte sich an diesem Morgen alles verändert.
Vor ein paar Stunden hatte es begonnen. Der Direktor hatte sie hinab in die Stollen geschickt, um einen Gast aus der Außenwelt zu empfangen. Verity hatte versucht, nicht an Lily zu denken, als sie die uralten Korridore entlangging. Sie hatte versucht, nicht daran zu denken, wie sie Lily zum Tor geführt hatte – dem einzigen Weg, der zu Fuß aus der Stadt hinausführte. Sie hatte gehofft, der alte Direktor würde Lily mit dem Boot fahren und durch die geheimen Schleusen ausreisen lassen, die von den Kapitänen der Flussschiffe benutzt wurden. Doch der alte Direktor war streng – außer dem Jungen durfte niemand Lily begleiten, und ihr wurde überhaupt keine Hilfe gewährt.
Während der ganzen Zeit auf diesem langen Weg hatte Verity kein Wort mit ihrer Nichte gewechselt. Lily musste sie für eiskalt gehalten haben. Dabei hatte Verity die ganze Zeit gewusst, dass, wenn sie erst einmal angefangen hätte zu erzählen, sie alles berichtet hätte.
Als sie daher an diesem Morgen ein Klopfen am Tor gehört hatte, war Verity losgelaufen. Vielleicht war es ja Lily, vielleicht erwies sich das Schicksal ihr gegenüber ja letztendlich doch als gnädig. Mit zitternder Hand hatte sie den Schlüssel umgedreht und das Tor aufgerissen. Aber nicht Lily hatte dort gestanden, sondern ein finster dreinblickender Mann in rostrotem Gewand.
»Endlich«, hatte Vater Wolfram geknurrt und sich an ihr vorbeigedrängt. »Bringen Sie mich zum Direktor.«
Es war ein langer Weg zurück zum Direktorium gewesen und ein noch längeres Warten, während der rot gekleidete Mönch seine Privatunterredung mit dem Direktor führte. Greaves war hinzugezogen worden. Der Direktor hatte sämtliche Termine abgesagt, und die Tür zu seinem Zimmer war geschlossen geblieben. Am Ende hatte Verity ein paar Papiere in die Hand genommen und leise die Tür geöffnet. Der alte Direktor hatte nie etwas dagegen gehabt, und ihre Neugier hatte sie überwältigt. Jemanden vom Orden der Verlorenen hatte sie nicht mehr gesehen, seit sie ein kleines Mädchen gewesen war. Sie stellte sich vor, Wolfram und sie wären die einzigen Menschen aus Giseth in der ganzen Stadt.
Der Anblick, der sich ihr bot, war geradezu grotesk. Wolfram ging vor dem Schreibtisch des Direktors auf und ab. Sein hinkender Gang trug nicht dazu bei, seine Wut zu verbergen. Im Gegensatz dazu saß der Direktor ganz ruhig da, während seine grünen Augen im Kerzenschein glänzten.
»Vater Wolfram, beruhigen Sie sich«, sagte der Direktor wie immer in gemessenem Ton. »Ich versichere Ihnen, dass wir alle Anstrengungen unternehmen, den Jungen zu finden. Aber hier ist nicht Giseth. Die Agoraner sind eigensinnig, und es gibt viele Orte, an denen er sich verstecken kann.«
»Sie haben mir gesagt, dass Sie diese Stadt beherrschen, Direktor«, erwiderte Wolfram bitter. »Und dass ich mein Land vor einer Katastrophe bewahren könne, wenn ich Ihren Interessen diene. Hätte ich geahnt, dass Sie so wenig Macht haben …«
»Macht ist etwas Eigentümliches, Vater«, entgegnete der Direktor seelenruhig. »Manchmal erweist sich eine stumme Beobachtung als genauso mächtig. Ich hätte gedacht, ein Mann wie Sie, der sich normalerweise an ein Schweigegelübde hält, würde das begreifen.«
Als Wolfram mit einem Schnauben darauf reagierte, musste Verity ein Lächeln unterdrücken. Sie wollte sich gerade bemerkbar machen, als der Direktor sie
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