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Das Land des letzten Orakels

Titel: Das Land des letzten Orakels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Whitley
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entdeckte. Diesen Blick hatte sie bei ihm schon gesehen, als er noch Bediensteter beim ehemaligen Direktor gewesen war, nicht mehr als Mr Snutworth, ein nützlicher Spion. Es war ein Blick, der äußerst gelassen und vollkommen vernünftig war und deutlich machte, dass man ihn nicht stören durfte.
    Sie nickte fast unmerklich.
    Wolfram bekam diesen Austausch offenbar nicht mit und fuhr mit seiner Beschwerde fort.
    »Ich habe es mit Geduld versucht, Direktor«, brummte er böse, »doch dabei habe ich nur meine Zeit verschwendet. Ich habe Ihnen den Jungen übergeben, und im Gegenzug haben Sie mir nur einen Brief geschickt, in dem Sie schreiben, das Mädchen müsse ebenfalls gefunden werden. Ich habe Wochen damit zugebracht, durch Giseth zu ziehen und Dorf für Dorf zu durchsuchen. Ich weiß, dass Schwester Elespeth vom Zirkel der Schatten mehr weiß, als sie sagt, aber sie weigert sich, mit mir zusammenzuarbeiten, und diese Frau ist schwer aufzustöbern.« Wolfram schlug mit der Faust auf den Mahagonischreibtisch des Direktors, worauf eine Reihe von Papieren auseinanderstoben. »Ich habe für diese Suche viel geopfert. In meinem eigenen Dorf Aecer herrscht ohne meine Führung Chaos, die Hälfte meiner Mönchsbrüder glaubt, der Alptraum habe mir den Verstand geraubt, mein Schweigegelübde ist ruiniert …«
    »Alles für die bestmögliche Sache«, sagte der Direktor milde. »Wenn die Kathedrale der Verlorenen das Ziel von Miss Lily ist, hätte die Suche dort anfangen sollen.«
    Wolfram grunzte. »Nachdem meine anfängliche Suche zu nichts geführt hatte, habe ich es versucht. Ich habe sogar ein Flussschiff von seiner Aufgabe, Lebensmittel nach Agora zu bringen, entbunden, um meine Reise durch die Sümpfe zu beschleunigen. Aber der Pförtner hat mich abgewiesen und behauptet, er habe ein solches Mädchen nicht gesehen, und keines der Ordensmitglieder wollte reden.«
    Snutworth wölbte eine Braue. »Konnten Sie denn beim Vater des Mädchens nichts erreichen? Laut Ihren Berichten ist er doch Mitglied Ihres Ordens und lebt in der Kathedrale?«
    Wolfram machte ein wegwerfende Handbewegung. »Als ich ankam, war Bruder Thomas bereits tot. Wir werden uns nicht darauf verlassen können, dass meine Mönchsbrüder das Mädchen wieder auffinden …«
    Mehr hatte Verity nicht mitbekommen. Es hatte sie Mühe gekostet, die Papiere, die sie in der Hand hielt, nicht fallen zu lassen. Sie hatte den Raum geräuschlos verlassen, ohne sich darum zu kümmern, ob der Direktor sie gehen sah.
    Ihr Bruder war tot. Ihr großartiger, perfekter Bruder war tot, und sie hatten seinen Tod wie eine Nebensächlichkeit abgetan. Sie spürte, wie die letzten Bande der Loyalität zerrissen. Der alte Direktor – der richtige Direktor, nicht dieser heimtückische, unrechtmäßige Machthaber – war weg. Sie hatte keinen Grund mehr hierzubleiben. Keinen Grund, wie eine Gefangene in diesem verrottenden alten Gebäude zu hocken und einem Mann zu dienen, in dessen Augen sie nicht mehr als ein Werkzeug war.
    Sie stand im Begriff, ein Verbrechen zu verüben. Sie war kurz davor, den schlimmsten Verrat zu begehen, jede Regel zu brechen, die sie bis dahin befolgt hatte. Gegen alles zu verstoßen, um was ihr Bruder sie dringend gebeten hatte, als er sie vor beinahe fünfzehn Jahren nach Agora geschickt hatte.
    Aber sie würde es ohne einen Funken Reue tun, weil ihr Bruder tot war. Und Lily war jetzt die einzige noch lebende Familienangehörige.
    »Miss Rita?«
    Verity schreckte aus ihren Gedanken hoch. Der Chefinspektor war aufgestanden und wies auf die Uhr an der Wand.
    »Es ist jetzt die zweite Stunde. Sollte ich unterbrechen? Es liegt mir fern, den Direktor warten zu lassen.«
    Sie schaute Greaves an und las in seinem zerfurchten Gesicht Besorgnis. Sie rang sich ein Lächeln ab.
    »Gehen Sie hinein, Chefinspektor«, sagte sie strahlend. »Dem Direktor wird die Unterbrechung sicher willkommen sein.«
    Er erwiderte ihr Lächeln, wenn auch ein wenig zögerlich, da in diesem Moment Wolframs Geschrei die Tür erbeben ließ.
    »Das will ich gern glauben«, sagte er. »Aber wollen Sie mich nicht lieber anmelden?«
    Verity nahm die Papiere auf ihrem Schreibtisch in die Hand. »Nein«, erwiderte sie, bemüht, ihre Stimme geschäftsmäßig klingen zu lassen. »Ich fürchte, ich muss mich anderen Aufgaben widmen.«
    Und bevor ihre Miene sie verraten konnte, bevor ihre Fassade Risse bekam, machte sie auf dem Absatz kehrt und ging zum letzten Mal aus ihrem Büro.
    Jeder

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