Das Land des letzten Orakels
Schweigen und erhob sich. »Ich muss protestieren. Ist es wirklich notwendig, all unsere Ressourcen dafür einzusetzen, Mark und Lily aufzuspüren? Meine Eintreiber sind schon überfordert damit, das Problem mit Crede zu lösen, und wie es scheint, hält sich Lily nicht einmal innerhalb der Stadtgrenzen auf.«
»Sie haben keine Ahnung«, murmelte Wolfram verächtlich.
»Nein, nein, Vater Wolfram, der Chefinspektor hat nicht ganz unrecht«, sagte der Direktor und brachte Wolfram mit einem Blick zum Schweigen. »Greaves, Sie konzentrieren sich auf Crede. Vielleicht wäre eine Art Treffen angemessen; wir haben ihn schon zu lange ignoriert. Was Sie angeht, Wolfram« – der Ton des Direktors wurde vertraulicher –, »so denke ich, dass wir bald die Antwort auf all Ihre Sorgen parat haben werden.«
»Wie können Sie da sicher sein?«, fragte Wolfram, offenkundig verärgert über die Gelassenheit des Direktors.
Dieser setzte sich wieder hinter seinen Schreibtisch. »Wegen einer Seite aus einem sehr alten Buch, Wolfram«, erwiderte er leise. »Falls ich recht habe, wird sie uns eine Menge Probleme vom Hals schaffen.«
Greaves blickte erst den Mönch und dann den Direktor an. Er war sich nicht sicher, was hier wirklich vor sich ging, und das irritierte ihn. Auf der anderen Seite hatte er derzeit ohnehin genug Sorgen.
»Ich muss sagen, dass ich für eine solche Seite dankbar wäre«, sagte er. »Wenn ich fragen darf, was steht denn darauf?«
Der Direktor schaute ihn an, doch falls in seinen unergründlichen Augen ein Geheimnis lag, konnte Greaves es nicht erkennen.
»Gar nichts, Chefinspektor«, erwiderte er. »Zumindest nichts, was von Bedeutung zu sein scheint. Und das ist das Schöne daran. Wenn es im richtigen Moment eingesetzt wird, kann nichts das Mächtigste auf der Welt sein.«
Greaves starrte den Direktor an, den Mann, der noch vor wenigen Jahren ein Bediensteter gewesen war und nun als Herrscher von Agora hinter seinem Mahagonischreibtisch saß. Wenn irgendwer etwas über Macht wusste, dann er.
Ein beruhigender Gedanke war das nicht.
KAPITEL 9
Die Legende
Miss Verity war genau so, wie Mark sie in Erinnerung hatte.
Sie war ohne Vorankündigung mitten während eines heftigen Platzregens zum Tempel gekommen, mit der Hand Petes Nachricht umklammernd. Sie hatte darum gebeten, vor den Eintreibern versteckt zu werden. Als Ben dann Mark geholt hatte, saß sie bereits still mit Laud und Theo in dem Kellerraum, trocken, aber am ganzen Körper zitternd. Ihre Welt schien auseinandergebrochen.
Mark starrte sie an. Sie ähnelte Lily so sehr, dass er überrascht darüber war, dass ihm diese Ähnlichkeit nicht schon bei ihrer ersten Begegnung aufgefallen war. Ihre Kleidung wirkte ein wenig unordentlicher als in seiner Erinnerung, und mit Sicherheit war die Frau besorgter. Aber sie war nach wie vor diejenige, die ihn aus seiner Zelle befreit und aus seiner Heimat verbannt hatte. Die gleiche Frau, die er in Lilys Träumen gesehen hatte, die Tante, die sie nach Agora gebracht hatte. Die Frau, die auf ihre Art und Weise alles ausgelöst hatte.
Zugutehalten musste man ihr, dass sie keine Zeit vergeudete. Kaum hatte Mark die Tür geschlossen, fing sie an zu reden.
Sie sprach leise, aber deutlich, ohne zu versuchen, ihre Handlungen zu rechtfertigen oder zu entschuldigen. Sie erzählte ihnen von ihrer Arbeit als Sekretärin des Direktors und wie sich das Direktorium verändert hatte, seit Snutworth an seiner Spitze stand. Sie sprach von den Eintreibern, die sich auf den Kampf vorbereiteten, und von der zunehmenden Zahl von Geheimtreffen. Doch vor allem sprach sie von Lily. Darüber, dass diese es bis zur Kathedrale der Verlorenen geschafft hatte, danach aber wie vom Erdboden verschwunden war.
»Verschwunden?«, fragte Laud scharf. »Sie meinen doch nicht …«
»Vater Wolfram meinte, sie wäre an einem Ort, der ›Das Land unten‹ heiße, und der Rest des Ordens lasse nicht zu, dass er ihr folgt. Wo immer sie ist, ich denke, sie ist fürs Erste in Sicherheit.«
»Wolfram ist hier?«, fragte Mark, dem mulmig zumute wurde.
Verity nickte. »Ja. Allerdings hält er sich nicht mehr an sein Schweigegelübde. Um ehrlich zu sein, bin ich mir nicht sicher, ob der Orden ihn noch länger als einen der seinen anerkennt.«
Dieser Gedanke spendete Mark ein wenig Trost. Er hatte sich immer Snutworth als seinen alleinigen Feind vorgestellt. Doch Mark erinnerte sich an Wolfram. Er erinnerte sich an diesen harten, herzlosen Blick,
Weitere Kostenlose Bücher