Das Land des letzten Orakels
der einem die innersten Gedanken nach außen zu kehren schien, an diese vollkommene Überzeugung, er allein wisse, was wirklich richtig war. Snutworth war beunruhigend, weil Mark seine wahren Motive nie hatte ergründen können. Wolfram war das Gegenteil. Sein Glaube prägte sein ganzes Leben, und jetzt im Moment, so schien es, glaubte er an Snutworths Sache.
»Was soll es!«, sagte Laud gereizt. »Ein Mann mehr macht jetzt auch keinen Unterschied mehr. Erzählen Sie uns von diesem ›Land unten‹.«
Verity nickte, wandte sich jedoch Mark zu. »Ich war jahrelang die Privatsekretärin des alten Direktors«, fing sie in vertraulichem Ton an zu erzählen. »In all der Zeit hat er dieses Land nur einmal erwähnt, nachdem ich ihm ein bestimmtes Buch aus dem ältesten Büchersaal gebracht hatte.« Sie griff nach unten und zog den Saum ihres bodenlangen Rocks hoch, um an einen großen, auf die Innenseite eingenähten Flicken zu gelangen, der als Tasche diente. Vorsichtig holte sie dann eine einzelne Seite heraus, die aus einem Buch herausgerissen worden war, und hielt sie Mark entgegen. »Ich denke, das hier könnte hilfreich sein.«
Mark nahm die Seite. Sie war alt und zerlesen und die Tinte verblasst. Er warf einen kurzen Blick darauf.
»Zucker … Gerste …« Er kniff leicht die Augen zu, um die Worte entziffern zu können. »Ist das ein Rezept? Was bedeutet es?«
Miss Verity lächelte. »Manche Dinge benötigen ein wenig Erhellung, bevor sie ihre wahre Bedeutung offenbaren«, sagte sie. »Halte sie hoch und nahe an die Laterne.«
Vorsichtig tat Mark wie ihm geheißen. Sobald das Licht durch das alte Pergament hindurchschien, verwandelten sich einige dunkle Formen, die wie Wasserflecken ausgesehen hatten, in Schriftzeichen.
Die Sozinhos besitzen sowohl die Tür als auch den Schlüssel zu dem Land unten, auch wenn sie nur eines von beiden kennen.
Das war lächerlich. Die Sozinhos waren in keinerlei Verschwörung in alten Zeiten verwickelt gewesen – es waren lediglich Musiker. Diese Botschaft ergab überhaupt keinen Sinn.
Doch die Nachricht war ein Hinweis. Immerhin hatten sie nun etwas, an das sie anknüpfen konnten. Mehr brauchten sie nicht.
Es regnete heftig, als Mark, Laud und Ben eine Stunde später durch die durchweichten Straßen des Löwe-Bezirks stapften. Umhänge und Mäntel hatten sie sich bis in die Gesichter hochgezogen, und ihre Stiefel waren durchnässt. Mark warf einen Blick auf seine Gefährten, die ein kleines Stück vor ihm gingen. Nur mit Mühe hatten sie Laud davon abbringen können, ohne Mantel oder Hut aufzubrechen. Er hatte es auch jetzt noch sichtbar eilig. Ben war zwar ruhiger, doch nicht minder entschlossen, diesem Hinweis nachzugehen. Theo hatte sich ihnen anschließen wollen und hätte es auch getan, doch Ben wies ihn darauf hin, dass sich jemand um den Tempel kümmern musste. Bei ihrem Aufbruch hatte der Doktor Verity gebeten, ihre Geschichte noch einmal zu erzählen, für den Fall, dass ihnen etwas entgangen war.
Ihrer aller plötzlicher Energieausbruch überraschte nicht. Mark war selbst bereits verrückt vor Sorge, und dabei war es für ihn kaum zwei Monate her, dass er Lily zum letzten Mal gesehen hatte. Die anderen im Tempel hingegen vermissten i hre Freundin und Anführerin schon beinahe anderthalb Jahre.
Mark schob seinen Hut nach hinten, um zu verhindern, dass sich ein Rinnsal Wasser einen Weg in seinen Nacken bahnte. Besonders kalt war es zwar nicht – es war ein später Frühlingsregen –, doch es regnete ausdauernd. In Giseth hatte er derlei Regenfälle begrüßt, wohl wissend, dass er am folgenden Tag die Felder nicht würde bewässern müssen. Es war eine eigentümlich glückliche Erinnerung, einer der wenigen Momente in seinem jüngeren Leben, an dem alles ganz einfach gewesen war.
Nein, wenn er jetzt darüber nachdachte, war sein Leben nie einfach gewesen. Jedenfalls nicht, seit er Lily zum ersten Mal begegnet war. Sie waren damals beide Bedienstete im Turm des Grafen Stelli gewesen. Selbst damals hatte es den Anschein gehabt, als sei sein Leben vorausgeplant gewesen, von der Zeit als Lehrling von Dr. Theophilus bis zu dem Tag, an dem sie ihre Leben getauscht hatten. Damals war es eine ganz einfache Entscheidung gewesen; Lily und er hatten die Herren getauscht, weil er Angst davor hatte, sich in die Stadt hinauszuwagen, und Lily sich danach sehnte, aus dem Turm des Sterndeuters herauszukommen. Das war das erste Mal gewesen, dass sie getrennt waren, seit sie
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