Das Land des letzten Orakels
wusste, wie dieser in den Zwischenräumen der Gedanken lebte, sich von dunklen Gefühlen nährend. Doch hier unten, in einem Land, wo sich niemand wirklich um den anderen kümmerte, war er verkümmert. Alles, was er benötigt hatte, war ein einziger Kopf gewesen, in dem er sich verstecken konnte. Ein einziges Herz, das wahre Gefühle empfand. Er war listig gewesen, hatte sie mit der Verheißung von Wissen dazu verlockt, dem Hohelied zu lauschen. Fast hätte er sie bekommen. Aber jetzt war sie frei.
»Lily?«, sagte Ben und ergriff ihr Handgelenk. »Was tust du?«
Lily schüttelte ihre Freundin ab. Sie durfte sich jetzt nicht ablenken lassen. Ihr Geist war klar und rein und fokussiert. Sie hatte den Alptraum besiegt. Sie würde ihn und all seine Lügen aus ihrem Kopf verjagen, aus dem Hohelied. Dann würde nur noch die Wahrheit bleiben. Diese leuchtende, wunderschöne Wahrheit, die ihrem Leben Sinn verleihen würde. Die Wahrheit würde ihr nie etwas zuleide tun, würde sie nie allein mit ihren Ängsten und ihrer Leere lassen.
»Lily?«, fragte Laud. »Lily, was tust du?«
»Ich beende das Lügen«, sagte sie.
Mit einer hastigen Bewegung langte Lily empor, riss dem Orakel die Maske vom Gesicht und warf sie zu Boden. Sie zerbrach, und die Kristalle stoben auf dem felsigen Boden auseinander, hüpften davon, bis sie nicht mehr zu sehen waren. Lily starrte.
Das Gesicht des Orakels ähnelte ihr nicht so sehr, wie es bei Verity der Fall gewesen war, auch wenn es dunkelhäutig war. Offenbar hatte Lily ihr Aussehen eher von der väterlichen Familienseite geerbt. Doch das Gesicht hatte etwas an sich – die Stellung des Kinns, die Form der Nase –, das es unverkennbar machte. Nur die Augen waren anders. Sie hatten zwar keine andere Farbe, es waren die gleichen dunklen Spiegel wie bei Lily. Doch während Lilys Augen durchbohrten, waren die des Orakels unermesslich tiefe Becken. Aufsaugend, aber überhaupt nichts abgebend. In diesen Augen lag keinerlei Gefühl. Nur kühles, schreckliches Wissen.
»Jedes Wort ist wahr, meine Tochter«, sagte sie.
In der Ferne hörte Lily, wie jemand aus Leibeskräften rief und schrie. Es klang ein wenig wie sie. Nein, es war ihre eigene Stimme.
Das Geflüster des Hohelieds erfüllte ihren Geist. Ihre Mutter war ein Monster. Ein Monster wie sie selbst auch. Versteckt euch, Kinder, die Gegenspielerin kommt mit ihren glühenden Augen und brennt eure Welt nieder.
Sie rannte jetzt, oder nicht? Vielleicht war sie gestürzt? Hatte jemand sie an den Armen gepackt?
Jeder Moment ihres Lebens war vorhergesagt. Alles Leid, aller Schmerz um sie herum, kalkuliert und zu einer Theorie verarbeitet. Und sie hatte ihre Rolle gespielt. Sie hatte denen in ihrer Nähe falsche Hoffnung gegeben, sogar noch während sie sie in den Tod führte.
Sie befreite sich. Jemand fiel zu Boden.
Man hatte sie im Stich gelassen. Die Mitglieder des Waage-Bundes hatten sie zurückgelassen. Ein wahnsinniges Experiment, ohne Aufpasser.
Nach wie vor rief und schrie sie, ohne Worte. Dann ertönte ein schreckliches Knirschen und Knacken.
Sie waren nichts, sie selbst war nichts. Nichts hatte die geringste Bedeutung. Nur Leiden, Schmerz, Angst und …
Sie rannte. Sie hatte einen scharfen, metallischen Geschmack im Mund. Nun schrie auch jemand anders.
Sie waren nichts, und …
Immer noch am Laufen. Immer noch am Schreien.
Überhaupt nichts, und …
Sie war wie betäubt, ihr Kopf war leer.
Nichts, und … und …
Lauf einfach weiter. Lauf weiter.
Und dann …
Und dann …
KAPITEL 13
Risse
Laud öffnete die Augen.
Er lag auf dem Boden. Er hob den Kopf und schüttelte sich, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Er musste einen Moment ohnmächtig gewesen sein. In seinen Ohren dröhnte ein klingelndes, polterndes Geräusch.
»Sei kein Narr, Mark! Warte, bis das Beben aufhört!«
»Aber ich muss hinter ihr her …«
Laud konnte nun wieder etwas erkennen. Der Felssteg unter ihm schlingerte.
Taumelnd kam er auf die Beine. Die beiden Stimmen, die er gehört hatte, erwiesen sich als die von Mark und Ben. Seine Schwester hielt Marks Arm fest umklammert, doch gerade als Laud etwas sagen wollte, gab es eine weitere Erschütterung, eine weitere Eruption von widerhallendem Klang, und die beiden stürzten erneut zu Boden. Hinter ihnen sah Laud, wie sich das Orakel auf ihrem Thron zurücklehnte, Augen und Mund fest zusammengepresst, während um sie herum das Chaos ausbrach.
Wo war Lily?
Endlich konnte Laud wieder klar
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