Das Land des letzten Orakels

Kinder der Verlorenen genannt hatte, von der Außenwelt im Stich gelassen. Was geschah hier? Nein … was war hier geschehen?
    »Wann hat dieses Experiment begonnen?«, fragte Lily.
    Als das Orakel antwortete, schien sie beinahe zufrieden. »Vor fast 144 Jahren. Zwölf große Kreisläufe von zwölf Jahren …«
    Während sie sprach, schien sich eine andere Stimme zu der ihren zu gesellen. Es war das gespenstische Echo einer Männerstimme, verzerrt, aber gut gelaunt – eine Stimme des Triumphs.
    Zwölf mal zwölf, meine Brüder und Schwestern im Waage-Bund! Die perfekteste aller Zahlen. Genug Zeit, um mit unseren treuesten Anhängern die Stadt aufzubauen, unsere neuen Ländereien zu bevölkern und dafür zu sorgen, dass jedes Mitglied der ursprünglichen Generation sein Leben zu Ende leben kann und die neuen Generationen einzig mit Kenntnis der von uns erschaffenen Welt aufwachsen. Unser Agora, unser Giseth, die Versuchsfelder für unser größtes Gleichgewicht von allen!
    Die Stimme verklang. Plötzlich bekam Lily es mit der Angst zu tun. Ihre Erregung war verschwunden. Sie wollte nicht wissen, was diese Stimme gemeint hatte. Sie wünschte, sie hätte auf Ben gehört. Sie wollte weg hier, wollte nach Hause.
    Doch irgendetwas ließ sie weiterfragen, drängte nach mehr Wissen.
    »Diese Leute vom Waage-Bund, waren das die gleichen Menschen wie in Agora?«
    Das Orakel antwortete, ohne dass ihr gleichgültiger Ton ins Wanken geriet. »Nein, die Mitglieder des ersten Waage-Bundes waren eine Gruppe in der Welt außerhalb unserer Länder. Eine Versammlung von Denkern und Philosophen, die das Gleichgewicht in allen Dingen als den Schlüssel zu einer perfekten Welt betrachteten. Sie waren reich, wohlhabender als der größte Kaufmann in Agora. Sie glaubten, unter ihrer Führung könne die Welt perfekt ins Lot gebracht werden.«
    Einen winzigen Moment glaubte Lily, den Anflug einer Gefühlsregung herausgehört zu haben, so etwas wie ein ironisches Seufzen. »Eines Tages wurden sie dazu aufgefordert, es zu beweisen. Diese perfekte Welt zu erschaffen.«
    Lily hörte, wie Mark aufkeuchte.
    »Agora? Es war Agora, nicht wahr?«, sagte er.
    Das Orakel schien irritiert von dieser Unterbrechung. »Nicht ganz, Protagonist. Der wahre Waage-Bund wusste, dass Gleichgewicht alles war – dass sogar seine eigene Vision von Perfektion korrumpiert werden konnte und ein Gegengewicht benötigen würde. Deshalb haben sie Agora und Giseth gegründet – entgegengesetzt, unabhängig, in perfektem Gleichgewicht. Sie haben Agora mit Menschen von der Außenwelt bevölkert, mit solchen Menschen, die bis zur Selbstaufgabe an ihre Vision glaubten. Die freiwillig schworen, ihren Kindern nie von ihrer Vergangenheit zu erzählen, bei Androhung der Todesstrafe für sie und alle, welche die Wahrheit enthüllen würden.«
    »Der Letzte …«, sagte Mark langsam. »Er hat den Abstieg nach Naru bewacht … Er war der Letzte, der es wusste, nicht wahr? Der Letzte, der die Außenwelt gesehen hatte, bevor das Experiment begann.«
    »Ja«, erwiderte das Orakel, »der Letzte hatte sechs Sommer erlebt, als man ihn nach Agora brachte. Nicht der Jüngste, aber der Letzte, der starb. Ein Kuriosum.«
    Lily merkte, wie plötzlich Ärger in ihr aufstieg. Es war unmenschlich, das ganze Leben eines Mannes mit einer Fußnote abzutun. Sie hätte schreien wollen und verlangen, dass das Orakel sich entschuldigte. Sie schloss die Augen. Eine Gänsehaut überlief sie. Sie durfte es nicht an sich heranlassen. Tief in ihrem Kopf klang das Geflüster des Hohelieds so, als verspotte es sie. Je mehr sie erfuhr, umso mehr wollte sie verstehen. Es würde später noch eine Zeit kommen, sich mit den Gefühlen auseinanderzusetzen. Das musste es.
    »Aber dieser Ort hier, Naru, das war nicht Teil des Plans, oder?«, fragte sie.
    Das Orakel wandte Lily ihr ausdrucksloses, maskiertes Gesicht zu. »Naru ist kein richtiges Land. Es wurde erschaffen, damit die Mitglieder des Waage-Bundes Informationen über das Experiment bekommen konnten. Ihr Plan war, dass ihre Nachfolger alle paar Jahre zu Besuch kommen würden, um die neuesten Entwicklungen in Augenschein zu nehmen. Wir sammeln nach wie vor Informationen, doch außer mir haben alle den Grund dafür vergessen. Heute ist es einfach nur noch unsere Art.«
    Erneut erhob sich eine Stimme aus dem Chor des Geflüsters. Es war der gleiche erregte Mann – ein vor langer Zeit gestorbenes Mitglied des Waage-Bundes.
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