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Das Land des letzten Orakels

Titel: Das Land des letzten Orakels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Whitley
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lief Lily ein seltsamer Schauer über den Rücken. Ihre ganzen Pläne, Gedanken, Überzeugungen … sie waren alle Teil eines großen Plans.
    Mark neben ihr geriet ins Schwanken, und seinem Gesicht entwich jede Farbe. »Du willst damit sagen, dass unser Leben … das Leben unserer Eltern … dass alles geplant war? Alles nur, um eine These zu beweisen ?« Diese letzten Worte schrie er wütend heraus. Sie hallten in der Kammer wider, eine Milliarde Echos kehrte von den Wänden zurück und brachte sie alle ins Taumeln.
    Lily glühte vor Wut und hätte ebenfalls schreien wollen. Doch ein kalter Schauer durchfuhr sie, und ihre Knie knickten ein. »Nein …«, murmelte sie ungläubig. »Das ist nicht wahr. Ich war in Giseth nicht zu Hause, nicht wirklich …«
    »Doch, das warst du«, fuhr das Orakel mit leidenschaftsloser Entschlossenheit fort. »Du hast Fehler erkannt und diese weggebrannt. Denn das ist es, was du immer tun wirst, Gegenspielerin. Die Revolution braut sich bereits zusammen. Agora zerfällt in Fraktionen. Giseth wird von Zweifel, Wut und Gewalt heimgesucht. Das Experiment nähert sich bereits seinem Ende. Das Chaos, das du verbreitest, ist ein reinigendes Feuer. Seinen Flammen entkommt niemand.«
    Lily konnte sich nicht bewegen, konnte kaum noch atmen. In ihrem Kopf war das Geflüster zurückgekehrt, stärker denn je; das Hohelied in ihr ließ jenes in der Kammer widerhallen. Und jede einzelne Stimme sagte das Gleiche – dass das Orakel recht hatte. Wo immer sie hingegangen war, hatte sie Chaos gesät. Ihre Almosenhausbewegung nährte Tag für Tag in Agora Revolution und Gewalt. Sie war in das friedliche Dorf Aecer gekommen, und dank ihr hatten die Dorfbewohner ihre Anführerin in Stücke gerissen. Sogar der Alptraum, diese Traumlandschaft aus verborgenen Gefühlen, hatte sich jedes Mal, wenn sie sich dorthin gewagt hatte, in eine Hölle verwandelt. Nicht ein einziges Mal in ihrem qualvollen, kämpferischen Leben hatte sie etwas getan, das nicht überall um sie herum Narben hinterlassen hatte. Und trotzdem machte sie immer weiter, ihr Weg von selbstgerechter Wut erleuchtet, und redete sich ein, sie täte etwas Gutes.
    »Lily … alles in Ordnung mit dir?«
    Es war Laud, der sie angesprochen hatte, aber Lily konnte sich nicht konzentrieren. Ihr war der Schweiß ausgebrochen, und ihre ungebetenen Gedanken prasselten auf sie ein. Ihr ganzes Leben lang war sie eine Rebellin gewesen. Das war ihre Identität. Es war wichtiger für sie gewesen als die Familie, die sie nicht hatte, wichtiger als die Freunde, die sie ständig verlor. Sie war bereit gewesen, für ihre Sache zu sterben, bereit, alles dafür zu tun. Aber sie war nicht gestorben. Andere hatten für sie geblutet und ihr Leben verloren. Sie war keine Anführerin. Sie war auch keine Retterin. Sie war überhaupt nichts.
    »Nein, das akzeptiere ich nicht!«, schrie Mark das Orakel an. »Ich behaupte, ich habe frei und selbstständig gelebt.«
    Das … das war es.
    Plötzlich stieß Lily ein hohes, gequältes Lachen aus. Das ganze Geflüster verstummte, als hielte es den Atem an. Es war eine Lüge. Alles. So musste es sein. Nichts war verkehrt. Gar nichts. Es war alles … so klar …
    »Mark …«, ertönte Lauds warnende Stimme. »Ich glaube, mit Lily stimmt etwas nicht. Lily? Kannst du mich hören? Lily?«
    Doch Lily schob Laud beiseite. Sie konnte ihn jetzt nicht anschauen. Er sollte ihr Gesicht nicht sehen.
    »Es ist schon gut«, sagte sie leise. »Das ist alles bloß ein Trick, nicht wahr? Das Orakel lügt. Der Direktor hat gelogen. Es sind alles nur Lügen …«
    Sie wiederholte es immer wieder, während sie dichter an das Orakel herantrat und dieses ausdruckslose Kristallgesicht anstarrte. Das hier war nicht ihre Mutter. Das hier war nicht die Wahrheit, nach der sie so lange gesucht hatte. Es konnte nicht sein, dass sie die Tochter einer seelenlosen Maschine war. Sie konnte nicht Chaos und Schmerz verbreitet haben, nur um die Pläne längst verstorbener Herrscher auszuführen. Das war es, was sie dem Geflüster sagte, den schmerzerfüllten Echos in ihrem Kopf. Dass es keine Macht mehr über sie besaß.
    Denn nun verstand sie es. In ihrer plötzlichen Klarheit erkannte sie die Wahrheit, die in dem Hohelied mitschwang. Sie spürte die dunkel lastende, verzweifelte Bürde des Alptraums, der sich darin verbarg. Sie lachte erneut, ein erstickendes Geräusch, das ihr in der Kehle schmerzte. Sie kannte die Art des Alptraums aus ihrer Zeit in Giseth,

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