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Das Land des letzten Orakels

Titel: Das Land des letzten Orakels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Whitley
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natürlichen Kristalle in den menschenleeren Ländern haben außergewöhnliche Eigenschaften. Ihre Resonanzfähigkeit sollte es uns ermöglichen, alle möglichen Fakten aufzuzeichnen, ohne uns in die Länder selbst begeben zu müssen und die Projekte zu stören. Meine Kollegen haben sogar Spekulationen darüber angestellt, man könne sie die Frequenz von Gedanken oder Erinnerungen widerhallen lassen … ja, sogar reine Gefühle. Das würde es ihnen erlauben, sie aus einem Körper herauszuziehen und aufgelöst aufzubewahren! Ich habe den Eindruck, dass es nicht ganz fair ist, sich über meine Ideen lustig zu machen, Sir …
    Die Stimme verklang wieder. Mark schüttelte ungläubig den Kopf. Ben und Laud wechselten verwunderte Blicke. Lily wusste, dass sie nach außen hin gelassen wirkte. Doch dies lag allein daran, dass sie die Hände so fest zusammenpresste, dass sich ihre Nägel ins Fleisch bohrten. Diese Arroganz des alten Waage-Bundes! Ein ganzes Volk einfach in Naruvaner zu verwandeln – ihr Leben so weit zu verändern, dass sie einander nicht berührten, nie wirklich etwas fühlten, sondern lediglich zerrissene, zerstückelte Fakten sammelten. Und das alles nur, um ihr kostbares Experiment nicht zu verfälschen.
    Nein, so durfte sie nicht denken. Sie durfte nicht daran denken, dass alles, was sie kannte, jeder Mensch, jeder Anblick, jede Erfahrung in ihrem Leben, als Teil eines großen Sozialexperiments geplant worden war. So viele Leben waren verbogen und verzerrt worden, damit sie in ihr Schema hineinpassten. Um ihre »perfekte« Welt zu erschaffen.
    »Und was ist schiefgelaufen?«, fragte Lily. Ihre Stimme hatte mittlerweile einen spöttischen Ton angenommen, der sich gar nicht mehr nach ihr anhörte.
    Dieses Mal flammte der Klang der Echos erneut auf, so als befände sich der Geist des Orakels in Aufruhr. Doch als sie dann antwortete, geschah dies in dem gleichen ausdruckslosen, vernünftigen Tonfall wie immer.
    »Es kamen keine Nachrichten mehr. Der Waage-Bund meinte, in der Außenwelt wäre etwas geschehen, das Projekt solle aber fortgesetzt werden. Sie würden Kontakt mit uns aufnehmen, sobald sie es könnten. Dann geschah nichts mehr, bis eines Tages vor den Klippen unterhalb der Kathedrale in Giseth ein Schiff aufkreuzte. Ein Schiff mit roten Segeln, beladen mit Gold- und Silbermünzen. Aber von der Besatzung war keine Spur zu sehen. Nur ein einziger Mann hatte an Bord überlebt, und bevor auch er starb, stammelte er noch, über die Außenwelt sei eine Katastrophe hereingebrochen. Vielleicht hatte er recht. Vielleicht ließen uns die Mitglieder des Waage-Bundes aber auch einfach nur im Stich. Wie dem auch sein mag, seit diesem Tag haben wir nichts mehr gehört. Die Mönche nahmen die Münzen an sich, hatten aber keine Verwendung dafür und mauerten sie in die Wände der großen Kathedrale der Wahrheit des Waage-Bundes ein. Sie wurde umgetauft in die Kathedrale der Verlorenen, denn das ist es, was wir nun sind. Für immer verloren.«
    Lily fragte sich, ob sie Trauer oder Entsetzen empfinden sollte. Stattdessen überschwemmte sie eine große Welle der Erleichterung. Endlich empfand sie ein wenig Trost.
    »Also ist das Experiment vorbei«, sagte sie.
    »Nein, Gegenspielerin, das Experiment geht weiter. Dafür hast du gesorgt.«
    Lily starrte sie an. Sie brachte kein Wort mehr über die Lippen.
    »Wie meinst du das?«, fragte Laud wütend an ihrer Stelle.
    »Sie wussten, dass sie am Ende, nach 144 Jahren, eine Methode benötigen würden, um den Erfolg ihres Experiments zu beurteilen«, erwiderte das Orakel. »Sie wussten, dass die Menschen innerhalb ihrer Experimentalgesellschaften unterschiedliche Meinungen gebildet haben würden. Sie brauchten lediglich zwei Bürger – einen, dem die agoranische Denkweise innewohnt, dem anderen die aus Giseth. Einer, der Erfolg in ihrer perfekten Stadt hatte, in der jeder Handel ausgewogen und gerecht war, und einer, der dagegen ankämpfte und alle Fehler aufdeckte. Der Protagonist und der Gegenspieler würden – am Ende der Zeit ausgewählt – durch Agora und Giseth ziehen und beide von ihren Unzulänglichkeiten befreien. Jeder würde seine jeweilige Rolle spielen. Gemeinsam würden sie die Länder bereisen. Gemeinsam würden sie alles zu sehen bekommen. Und gemeinsam würden sie Chaos und Zwiespalt säen, und die Unreinheiten würden beseitigt werden. Und dann würden sie über den Erfolg des Projekts urteilen und die perfekte Ausgewogenheit herstellen.«
    Erneut

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