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Das Land des letzten Orakels

Titel: Das Land des letzten Orakels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Whitley
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denken. Er erinnerte sich an Lilys Schrei, der nach wie vor widerhallte. Er erinnerte sich daran, wie sie aus dem Thronsaal gelaufen war und alle, die sie aufhalten wollten, mit irrsinniger Kraft abgewehrt hatte.
    Dann erinnerte er sich an ihre Augen. Er wünschte von Herzen, es wäre nicht so. Was das Orakel ihnen gesagt hatte, war furchtbar, war schrecklich gewesen. Er selbst hatte es kaum verkraften können. Aber Lily hatte es noch hundertmal schlimmer getroffen. Sie hatte nicht mehr wie das Mädchen ausgesehen, das er kannte. Ihre Augen hatten so tot gewirkt wie die des Orakels.
    Er warf einen Blick auf Ben. Das Beben schien mittlerweile zu verebben, und Mark war bei ihr. Sie befand sich für den Moment in Sicherheit. Ohne weiter darüber nachzudenken, rannte er los und folgte Lily.
    Das Beben dauerte an, während er den Vorhang beiseiteschob und in einen Stollen hastete. An den Wänden entlang verliefen alarmierende Risse, und einige der Leuchtkristalle lagen auf dem Boden. Als er die Steinstufen hinaufsprang, sah er, dass etwas Glitzerndes auf dem Boden lag. Es war die winzige Messingwaage, die Lily in ihrer Schürzentasche aufbewahrt hatte. Vor nicht einmal einer Stunde hatte sie sie ihnen gezeigt. Sie musste definitiv hier entlanggerannt sein.
    Am oberen Ende der Stufen erwartete ihn der Dirigent. Die Panik hatte ihm den Schweiß auf die Stirn getrieben.
    »Sir? Was ist geschehen?«, stammelte er. »Ich bin gekommen, um meinen Respekt zu zollen, und da hat sich die Erde bewegt. Und dann tauchte Miss Lily auf und …«
    »Wo ist sie?«, wollte Laud wissen und packte den Dirigent am Ärmel. »In welche Richtung ist sie gelaufen?«
    Der Dirigent erbleichte und wich vor Lauds Berührung zurück, als verbrenne sie ihn. »Zum Schienenknoten«, stieß er hervor. »Aber folgen Sie ihr nicht, Sir. Wenn der Fels so stark bebt, ist das Orakel in Aufruhr – die kleineren Stollen sind dann nicht mehr sicher …«
    Doch Laud war bereits losgerannt.
    Wenige Minuten später schoss ein Karren, in jeder Kurve Funken sprühend, mit drei Insassen über die Schienen. Vorne standen zwei Naruvaner, die den Karren lenkten, während ihr langes weißes Haar im Fahrtwind wehte. Der Mann hatte sich als Tertius bezeichnet und wirkte nervös. Die junge Frau, Septima, hingegen lachte, als wäre das Ganze nur ein wunderschönes Spiel. Hinter ihnen kauerte sich Laud zusammen, und in jeder holprigen Kurve krachte ihm sein Rucksack mit den Vorräten gegen den Rücken.
    Zum x-ten Mal verfluchte sich Laud dafür, dass er nicht ein bisschen schneller gewesen war. Er hatte Lilys Karren noch die Schienen entlang verschwinden sehen, weg aus der Kammer des Mittelpunkts. Doch bis Laud es geschafft hatte, Naruvaner dazu zu bewegen, ihm zu helfen, war Lily längst in den von Echos erfüllten Tiefen verschwunden. Er hoffte, dass Mark und Ben ihm folgen würden, doch darüber konnte er sich jetzt keine Gedanken machen. Bei der Geschwindigkeit, mit der diese Karren fuhren, würde Lily bereits meilenweit entfernt sein.
    »Wir haben jetzt fast den Schienenknoten erreicht!«, schrie Tertius in seine Richtung. Der Karren schoss herum, Septima jauchzte lauthals, und der Stollen verbreiterte sich. Mit kreischenden Rädern schossen sie in eine riesige Höhle, die mit einer Unmenge von klickenden, surrenden Maschinen gefüllt war. Laud sprang aus dem Karren heraus, bevor dieser zum Stehen gekommen war, stolperte über den felsigen Boden und packte einen erschreckten naruvanischen Ingenieur vorne am Gewand.
    »Haben Sie ein Mädchen hier vorbeikommen sehen?«, fragte er. »Dunkelhäutig, vielleicht schreiend?«
    Der Ingenieur wich vor Lauds Berührung zurück, nickte jedoch und wies auf einen der Seitenstollen, wo ein weiterer Schienenstrang in der Dunkelheit verschwand. »Sie … hat einen Karren genommen … bitte … lassen Sie mich los …«
    Laud wandte sich von dem eingeschüchterten Ingenieur ab. Im gleichen Moment huschte Tertius an ihm vorbei, um einen anderen Karren für ihre Weiterfahrt vorzubereiten.
    »Was für ein Vergnügen !«, sagte Septima, während sie eine Reihe von Zahnrädern auf der mittleren Apparatur einstellte. »Wir gehen auf die Jagd!« Laud schaute sie finster an, doch ihre Vorbereitungen waren bereits abgeschlossen, und sie kletterte hinter Tertius in den Karren. Als Laud sich ihr eilig anschloss, bebte der Boden erneut, sodass er auf die Knie fiel. In der Ferne vernahm er ein tiefes, knirschendes Geräusch. Und noch etwas anderes –

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