Das Land des letzten Orakels
einmal etwas in den Kopf gesetzt hat, dann bringt er es auch zu Ende. Nein, ich meine, ob wir nicht hätten verhindern sollen, dass Lily das Orakel befragt?«
»Meinst du, wir hätten sie dazu überreden können, damit zu warten?«, fragte Mark nach kurzem Zögern.
Benedicta seufzte und lehnte sich an das Geländer am Rand der Plattform. »Vielleicht hätten wir es versuchen sollen«, sagte sie. »Wenn wir Zeit gehabt hätten, mit ihr zu sprechen, sie auf alles vorzubereiten, dann wäre sie nicht davongelaufen, und das Orakel wäre nicht aus dem Gleichgewicht geraten … Die Arbeiter wären nicht ums Leben gekommen, Mark.«
Mark runzelte die Stirn. Er erinnerte sich daran, dass der Dirigent sie gescholten hatte, während sie die Überreste des Schienenknotens inspiziert hatten. Er hatte lautstark behauptet, Lily habe das Hohelied vergiftet und dem Orakel die Kontrolle entzogen. Da das Orakel nicht länger Ordnung und Harmonie aufrechterhalten konnte, so seine Worte, wären die Echos des Hohelieds in alle Richtungen gestoben und außer Kontrolle geraten. So lange, bis schließlich ihr wilder Widerhall die Höhlen bis auf die Grundfesten erschütterte – mit tödlichen Folgen.
Zuerst hatte Mark dem Dirigenten keinen Glauben geschenkt. Lilys Auseinandersetzung mit dem Orakel konnte doch wohl nicht verantwortlich sein für all diese Todesfälle. Aber während sie sich einen Weg durch die halb eingestürzten Stollen gebahnt hatten, hatte Mark einen Laut vernommen, von dem er gehofft hatte, ihn nie wieder zu hören. Aus dem unheilvollen Grollen, das sich in dem Fels über ihm fortsetzte, hörte er ganz leise ein vertrautes, spöttisches, gespenstisches Geflüster heraus.
Er hätte den Alptraum im Thronsaal des Orakels wiedererkennen müssen, als dessen finstere Einflüsterungen in der Luft herumwaberten. Er hätte spüren müssen, dass er im Mausoleum lauerte, als Lily sie alle begrüßt hatte. Aber er war von all den anderen Enthüllungen so in Anspruch genommen gewesen, überglücklich, Lily nach so langer Zeit wiederzusehen, dass er nicht begriffen hatte, in welcher Gefahr sie schwebten.
Andererseits war es Lily offenkundig genauso ergangen. Der Dirigent hatte erklärt, der Alptraum könne sich innerhalb des Hohelieds verbergen und von unbedachten Gedanken nähren. Plötzlich ergab das seltsame Verhalten der Naruvaner Sinn – sie sprangen immerzu von einem Gedanken zum anderen, erlaubten sich niemals intensivere Gefühle zu empfinden, aus Furcht, der Alptraum könne sie übermannen. Das war eine schreckliche Art zu leben, aber dadurch waren sie in Sicherheit. Bis Lily gekommen war.
Dem Dirigenten zu widersprechen war ihnen beiden daraufhin schwergefallen. Und ganz gleich, wie hart Mark und Ben sich bemüht hatten, das Geröll zu beseitigen, der Dirigent hatte an seiner Meinung festgehalten. Das Orakel wolle, dass sie nach Agora zurückkehrten, und das Beste, was sie tun könnten, sei, ihre Wünsche zu befolgen, bevor sie erneut die Kontrolle verlor.
»Das ist nicht das, was ich mir erhofft hatte«, räumte Mark ein. »Mich nach Hause schleichen und das Beste hoffen. Das hätte Lily nicht gewollt. Wir haben den Alptraum schon einmal besiegt. Zusammen könnten wir es wieder schaffen …«
»Aber wir sind nicht alle zusammen«, erwiderte Ben leise, während sie die Felswände anstarrte, die langsam an ihnen vorbeiglitten. »Ich glaube, das waren wir nie. Wir waren alle so verzweifelt bemüht, Lily zu retten, die Wahrheit ans Licht zu bringen, dass wir ihr nicht wirklich unsere Aufmerksamkeit geschenkt haben …«
Mark zupfte an seinen Hemdsärmeln herum und sah zum ersten Mal, wie ausgefranst sie waren. »Wir hatten keine Wahl, Ben«, begann er. »Lily wäre nie gegangen, ohne vorher die Wahrheit herauszufinden, und wir mussten sie so schnell wie möglich nach Hause bringen.« Er ließ den Kopf hängen, bemüht, ein wachsendes Schuldgefühl zu verbergen. »Es ist nicht bloß zu unserem Wohl, das weißt du«, sagte er hastig. »Agora braucht sie. Die Stadt benötigt jemand anderen als Crede, um die kleinen Leute anzuführen – um die Kämpfe auf den Straßen zu beenden, um sich gegen Snutworth durchzusetzen. Mit einer Sache hatte das Orakel recht: Lily weiß, wie man ein Feuer entfacht und wie man dafür sorgt, dass alle die Welt in einem anderen Licht sehen.« Mark biss die Zähne zusammen. Er fühlte sich hundemüde. »Wir brauchen sie.«
»Du klingst wie Crede«, sagte Ben leise.
Mark starrte sie an. Er
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