Das Land des letzten Orakels
verwaisten Karren zu verstecken. Jeder Eintreiber, der an ihnen vorbeieilte, hatte den gleichen gehetzten Gesichtsausdruck, und offenbar hatte keiner von ihnen in den letzten Tagen geschlafen. Doch erst als sie sich dem großen Marktplatz näherten und die vom Wind getragenen Stimmen vernahmen, erkannten sie, dass das, was geschehen war, weit bedeutender war, als sie gedacht hatten.
Mark und Ben kauerten sich in den Schatten des Jungfrau-Torbogens und starrten auf den Platz. Er sah aus wie ein Schlachtfeld. Die Buden, die sich normalerweise auf ihm drängten, waren ineinandergeschoben worden, um eine primitive Barrikade zu errichten, die sich in einer schlangenförmigen Linie über den Platz zog und sich vom Torbogen des Stier-Bezirks bis zur Schütze-Brücke auf der anderen Seite des Marktplatzes ausdehnte. Nein, erkannte Mark plötzlich, die Barrikade war gar nicht auf den Platz beschränkt – sie zog sich durch die ganze Stadt, soweit Mark erkennen konnte. Agora war in zwei Teile zerschnitten worden, und der Schütze-Bezirk, ihr Zuhause, befand sich auf der anderen Seite.
Auf dieser Seite der Barrikade patrouillierte eine Eintreiberstreife auf und ab. Die Anspannung war ihnen deutlich anzusehen. Auf die andere Seite konnte Mark nicht schauen, doch nach dem Lärm zu urteilen, klang es so, als befände sich dort eine große, ausgesprochen wütende Menschenmenge, die eine Litanei von Flüchen herausschrie und gegen die Barrikade hämmerte.
»Blut für Blut, ein gerechter Handel!«, riefen sie gerade. »Der Fels wird aufs Neue zuschlagen!«
Einen kurzen Moment überlegte Mark, was sie damit meinten, aber dann verdrängte er es mitsamt seinen anderen düsteren Gedanken. Es fiel ihm auf seltsame Weise leicht, weil sich alles vollkommen unwirklich anfühlte. Diese Stadt war sein Zuhause, sie konnte sich nicht so schnell verändert haben. Es war doch nicht einmal eine Woche her, dass sie sie verlassen hatten …
»Mark!«, flüsterte Ben und riss ihn aus seinen Gedanken. »Schau doch! Ich glaube, dahinten ist ein Weg, der an der Barrikade vorbeiführt!«
Mark folgte ihrem Blick und nickte. Einige der zerbrochenen Buden, aus denen die Barrikade bestand, waren entlang und unterhalb der Marmorbrücke, die zum Schütze-Bezirk führte, aufgetürmt worden. Dies war offensichtlich hastig geschehen, denn in der Barriere unterhalb der Brücke klafften unverkennbar Lücken. Groß genug, dass sie hindurchschlüpfen konnten.
In diesem Moment ertönte von der anderen Seite des Platzes plötzlich ein Schrei. Eine Reihe zerlumpter Gestalten war über die Barrikade geklettert und ließ nun einen Hagel von Steinen und Holzgegenständen auf die überraschten Eintreiber niedergehen. Für ein, zwei Minuten herrschte Verwirrung unter den Eintreibern, bevor sie sich neu formierten und die Randalierer festnahmen. Lange dauerte die Aktion nicht, doch es war lange genug, dass ihnen entging, wie Mark und Ben über die andere Seite des Platzes liefen und die Uferböschung neben der Schütze-Brücke hinabkletterten.
Ben lief vor, und Mark folgte ihr rasch, drückte sich an dem Schutt vorbei und zerkratzte sich Arme und Beine an dem rauen Marmor unter der Brücke. Das aufgestapelte Holz ächzte bedenklich, doch er schaffte es bis ans Ufer und zog sich dann an der Stelle hoch, wo Ben bereits stand und in die Ferne starrte.
»Komm weiter«, sagte er und zog sie am Ärmel. »Wohin schaust du?«
Dann sah er, was sich auf der anderen Seite des Platzes abspielte.
Von offenen Feuern stieg Rauch zum Himmel auf, und um sie herum schleuderte die Menge den Eintreibern trotzige Schimpfworte entgegen. Doch was seine Aufmerksamkeit noch stärker anzog, war ein Feuer in der Mitte. Es war größer als die anderen, und auf ihm verkohlte gerade eine lebensgroße Puppe in blau-goldener Eintreiberkleidung.
Dahinter, trotz des Qualms deutlich zu sehen, standen zwei Menschen, die er wiedererkannte. Mit einem davon hatte er gerechnet; es war Nick, Credes rechte Hand. Seine massige Gestalt wirkte nun, da er einen Fluch nach dem anderen ausstieß, noch einschüchternder. Doch es war die andere Gestalt, deren Anblick ihn schockierte.
Ihr Haar war zerzaust, ihre Kleidung schmucklos, und mit einem solchen Ausdruck von Wut auf dem Gesicht hatte er sie noch nie gesehen. Aber es war unverkennbar Cherubina.
Ben ergriff seine Hand. »Du hast recht«, sagte sie. »Es ist Zeit zu gehen.«
»Aber …«, stammelte Mark.
Ben drückte seine Hand noch fester. »Willst du,
Weitere Kostenlose Bücher