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Das Land des letzten Orakels

Titel: Das Land des letzten Orakels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Whitley
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wirkte verblüfft, doch sie war nicht halb so schockiert wie Laud selbst.
    »Sie ist zerbrochen«, sagte Septima, mit einem Mal sehr ernst. Ihr Lachen war so schnell aus ihrem Gesicht verschwunden, wie es gekommen war. »Zerbrochen. Sie hat zu viel Wahrheiten gehört. Sie will jetzt nicht gefunden werden. Wenn man zu viel weiß, ist das so.« Sie begegnete Lauds Blick und hielt ihm stand. »Warum, glauben Sie, lassen wir nichts an uns heran?«
    Tief erschüttert widmete sich Laud wieder seiner Arbeit. Er hatte nicht damit gerechnet, dass er so reagieren würde, aber zu hören, wie dieses Mädchen Lily nachäffte, alles verspottete, was sie zu etwas Besonderem machte …
    »Sie wird zurückkommen«, sagte er, während er Geröll beiseitezerrte. Die langsame Arbeit beruhigte seine Nerven. »Das muss sie. Nicht bloß für mich, Mark oder einen anderen ihrer Freunde. Für Agora. Wir brauchen sie. Die Stadt bricht zusammen, ihre Bürger scharen sich um einen Wahnsinnigen, der in ihrem Namen spricht. Wir haben versucht, ihre Vision lebendig zu halten, aber sie wurde von hunderttausend verzweifelten Seelen korrumpiert. Es wird Blut fließen, und ohne sie können wir das nicht verhindern. Ohne ihr Herz, ihre Stärke, ihre Zielstrebigkeit.« Laud ließ den Kopf hängen. »Sie darf nicht zerbrechen. Nicht Lily.«
    Eine längere Pause entstand.
    »Sie sind ein sehr treuer Freund«, stellte Septima fest.
    Laud entschied sich, darauf nichts zu erwidern. Sie schwiegen einige Minuten, während Laud in der Erde unter den Felsen kratzte, um die Steine zu lockern und so eine Lücke entstehen zu lassen, durch die er sich hindurchschlängeln konnte.
    Schließlich war er so weit. Er steckte den Kopf durch die Öffnung. Der dahinter liegende Stollen sah recht stabil aus, und einige wenige Kristalle in den Wänden leuchteten noch so hell, dass er die in der Ferne verschwindenden Metallschienen erkennen konnte. Das war der Weg, den Lilys Karren genommen hatte.
    Laud blickte sich um. Septimas Gesicht schien nun noch blasser als zuvor, und ihre glänzenden Augen waren schmerzerfüllt. Frustriert biss er die Zähne zusammen. Lily befand sich wahrscheinlich immer noch vor ihm, verlockend nahe, falls auch ihr Karren seinen Dienst aufgegeben hatte. Aber er konnte diese junge Frau nicht einfach hier zurücklassen, nur mit ihrem nutzlosen Freund als Gefährten. Jemand musste Hilfe holen.
    »Komme ich auf diesem Weg zurück zum Mittelpunkt?«, fragte Laud Tertius, der nach wie vor zusammengekrümmt an der Stollenwand lehnte. Keine Antwort. Laud trat auf ihn zu und brüllte ihm ins Ohr: »Bei allen Sternen, ist hier ein Gehirn unter diesen ganzen Haaren?«
    »Hilfe ist bereits unterwegs«, erwiderte Tertius plötzlich. »Hören Sie nur.«
    Er schob sich das Haar aus dem Gesicht und stand auf. In die Wand eingelassen, dort, wo er gelehnt hatte, sah Laud einen kleinen runden Edelstein, in dessen Mitte ein Licht tänzelte.
    »Ist das einer dieser Resonanzkristalle?«, fragte Laud überrascht. »Wie der über dem Kopf des Orakels?«
    »Hören Sie …«, sagte Tertius und deutete dabei nach unten.
    Laud ging in die Hocke und legte das Ohr an den Kristall. Als er dies tat, fing Tertius an zu summen, das gleiche Geräusch, das er zuvor gemacht hatte, doch dieses Mal konnte Laud die Melodie erkennen.
    Der Kristall fing an zu surren, und aus seiner Tiefe drangen Laute hervor.
    … ist mir egal. Wenn Laud und Lily irgendwo dort unten sind, hinter dem Felssturz, dann gehen wir nicht ohne sie …
    Er erkannte Benedictas Stimme. Laud spürte, dass ihm Tränen in die Augen traten. Seine kleine Schwester lebte!
    Die Echos werden lauter … Das war die panische Stimme des Dirigenten. Etwas geschieht mit der Welt oben. In Ihrer Heimat. Die Richter müssen nach Agora zurückkehren. Das ist der Wunsch des Orakels.
    Wir tun gar nichts, was diese Wahnsinnige sagt! Das war Mark, der so laut schrie, dass sogar noch das Echo der Worte den Kristall durchrüttelte. Ich bin hier der einzige Richter, und ich sage, dass Agora auf sich selbst aufpassen kann. Wir haben wegen Lily diesen ganzen Weg auf uns genommen, und sie würde uns auch nicht im Stich lassen …
    Aber es kann Tage oder sogar Wochen dauern, bis der Schutt weggeräumt ist! Das Orakel hat sich beruhigt, und sie hat ihre Stimmen gehört. Sie weiß, dass Mr Laudate und Miss Lily leben. Aber Miss Lily rennt noch immer weg. Ihr werdet sie nie einholen …
    Laud biss sich auf die Lippen. Er selbst war Lily sehr nahe.

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