Das Land des letzten Orakels
wiederzuerkennen glaubte. Sie war verführerisch vertraut. Eine vornehme Stimme – die eines älteren Mannes, der viele Sorgen zu tragen schien.
Sie müssen berücksichtigen, dass man nicht ihnen allein die Schuld zuschreiben darf, Direktor. Wir dürfen nicht zulassen, dass auf unseren Straßen Krieg ausbricht.
Manchmal ging er, manchmal versuchte er zu schlafen. Aber die Stimmen ließen ihn nie lange zur Ruhe kommen. Sie schwollen an, erhoben sich zu einem Sturm, hallten von dem endlosen Fels um ihn herum wider, bis sein Kopf voll davon war. Dann drang die Stimme des alten Mannes erneut durch das Gewirr, laut und angstvoll.
Hört doch, liebe Freunde. Wir sind nicht eure Feinde. Wir sind nicht …
Jemand schnappte nach Luft. Ein Schrei ertönte. Weinen und Schreien erklang. Laud quälte sich weiter. Das Geräusch ließ die Luft in den Stollen vibrieren.
Der Fels! Der Fels! Der Fels!
Laud hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten, damit es aufhörte. Aber das konnte er nicht, weil dort vor ihm in der Dunkelheit Lilys Stimme zu hören war. Winzig und einsam, aber doch irgendwie vernehmbar in dem Stimmengewirr.
Sie werden mich nie finden. Sie werden nie kommen …
»Doch, das werde ich, Lily«, flüsterte Laud so leise, dass er es selbst kaum hören konnte. »Das werde ich.«
Und er ging weiter, während seine eigenen Worte ihm entgegenhallten, als er tiefer in den Sturm hineinlief.
Das werde ich … werde ich.
Ich fürchte, Sir, die Mission ist gescheitert.
Ich werde … ich …
Mögen die Sterne über uns alle wachen.
TEIL ZWEI
Wahrheit
KAPITEL 14
Der Fels
»Mark, haben wir das Richtige getan?«
Mark blickte zu Benedicta hinüber. Es war das erste Mal seit Stunden, dass sie etwas sagte. Sie waren beide im Verlauf der letzten Tage immer mehr verstummt, nachdem klar geworden war, dass sie Lily und Laud nicht würden folgen können, ganz gleich, wie sehr sie rufen, wettern und flehen mochten.
Drei Tage zuvor hatten sie den beschwerlichen Rückweg nach Agora angetreten. Da der Schienenknoten zerstört war, fuhren die Karren nicht mehr, und so entwickelte sich die Reise, die auf dem Hinweg nur Stunden gedauert hatte, zu einer endlosen Schinderei durch die stille Dunkelheit. Als sie nicht mehr schimpften und fluchten, war ihnen der Gesprächsstoff ausgegangen. Genauer gesagt hatten sie in gegenseitigem Einverständnis beschlossen, nicht zu reden. Es brachte nichts, und sie vergeudeten nur ihre Energie, indem sie sich Sorgen machten, wo doch noch so viele Meilen Stollen vor ihnen lagen. Obwohl sie an diesem »Morgen« den Sockel des Abstiegsschachtes erreicht hatten, hatte Ben Mark nur müde angelächelt, bevor sie eingestiegen waren, die Steuerung in Gang gesetzt hatten und die Maschine ratternd zum Leben erwacht war, um sie wieder nach Agora hochzuziehen.
Mark setzte sich aufrecht hin und rieb sich den Rücken. Er hatte auf der Metallplattform gelegen und versucht zu schlafen. Ben stand bereits, hielt sich am Geländer fest, das die Plattform umgab, und betrachtete die Wände des Felsschachts, während sie an ihm vorbeiglitten.
»Ich weiß es nicht«, gab er zu. »Hatten wir denn überhaupt eine Wahl?«
Sie hatten keine Wahl gehabt, redete sich Mark ein. Die Stollen waren unpassierbar gewesen. Sie hatten zwei Tage lang ausgehalten, hatten mitgeholfen, den Schutt wegzuräumen. Dann hatten sie es endlich bis zum Schienenknoten geschafft, doch der Stollen, in dem Tertius und Septima eingeschlossen worden waren, war nach wie vor zu instabil und drohte einzustürzen. Sie waren gezwungen gewesen, durch das kleine Loch Essen hindurchzureichen, um die beiden Naruvaner wenigstens am Leben zu erhalten. Mark hatte den Dirigenten beschimpft und darauf beharrt, es müsse einen anderen Weg geben; sie könnten Laud und Lily doch nicht ganz allein in den äußeren Höhlen zurücklassen. Währenddessen hatte der Dirigent sie seinerseits angefleht, nach Agora zurückzukehren, hatte ihnen gesagt, das Orakel könne Hilferufe und Schreie aus der Welt oben vernehmen.
»Du weißt, dass wir ihnen gefolgt wären, wenn wir gekonnt hätten, ganz gleich, was der Dirigent erzählt hat«, sagte Mark, bemüht, dabei beruhigend zu klingen. »Aber wir konnten da unten nichts mehr bewirken. Und Laud wird sie finden.«
»Das meine ich nicht«, erwiderte Ben. Sie wandte sich ihm zu. In dem seltsamen, weichen Licht wirkte ihr Gesicht erschöpft, blasser noch als sonst. Sie biss sich auf die Lippe. »Ich vertraue Laud. Wenn er sich
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