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Das Land des letzten Orakels

Titel: Das Land des letzten Orakels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Whitley
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war zu schockiert, um etwas zu erwidern. Bens Augen glänzten in dem schwachen, bläulichen Licht, das von den Felswänden ausging.
    »Wir haben einander versprochen hinunterzugehen, um eine Freundin zu retten«, sagte sie sanft. »Aber wenn das wirklich unser alleiniges Ziel gewesen wäre, dann hätten wir sie beruhigt. Wir hätten uns besser um sie gekümmert. Crede hat sie während all dieser Zeit ständig als Leitfigur benutzt, und nun tun wir das Gleiche.«
    »Aber … wir brauchen sie«, sagte Mark, alarmiert davon, wie wahr Bens Worte klangen.
    »Ja, das tun wir.« Ben kniete sich vor Mark und schaute ihm in die Augen. »Aber als Freundin, nicht als Retterin. Lily hat das Almosenhaus, den Tempel, gegründet, doch wir haben seine Botschaft verbreitet. Ohne uns alle wäre er niemals so wichtig geworden, wie er es jetzt ist. Wir haben ihn weitergeführt.« Sie legte Mark ihre Hände auf die Schultern. »Das hier ist nicht mehr bloß ihr Kampf. Es geht um unsere Stadt, unsere Welt.« Sie lächelte. »Wenn Laud sie findet, und er wird sie finden, sollten wir ihr dann nicht zeigen, dass wir auf unsere Art auch etwas bewirkt haben? War das nicht immer das, was sie wollte? Dass jeder frei ist und seine eigene Zukunft gestaltet?«
    Mark lächelte zaghaft. Er wünschte, er wäre genauso zuversichtlich wie Benedicta. »Ich werde es … versuchen«, versprach er.
    Eine Zeitlang sagte keiner der beiden ein Wort. Sie saßen gemeinsam auf dem Boden der Plattform und lauschten dem Rattern der langen Kette über ihnen, die sie immer höher hinaufzog und nach Hause brachte.
    »Aber …«, sagte Mark schließlich. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich an Lilys Entschlossenheit herankomme.«
    Bens Lächeln wurde traurig. »Das wäre vielleicht gar nicht so schlimm«, sagte sie. »Vielleicht ist ja ein bisschen Anpassungsfähigkeit angemessen. Ich meine, wenn es etwas gab, was diesen alten Waage-Bund auszeichnete, dann war es Entschlossenheit.« Sie stieß einen Seufzer aus und wandte sich ab. »Es fällt mir schwer zu glauben, dass keiner die Wahrheit durchsickern ließ. Nicht ein einziges Mal. Diese ganzen Jahre ihre Kinder anzulügen und so zu tun, als wäre Agora eine uralte Stadt … Selbst die Androhung der Todesstrafe hätte mich nicht daran gehindert zu reden.«
    »Ich glaube nicht, dass es darum ging«, erwiderte Mark vorsichtig. »Erinnerst du dich nicht mehr daran, was das Orakel gesagt hat? Die ersten Siedler haben diesen Eid zu schweigen freiwillig abgelegt. Vielleicht waren sie verrückt, aber ich glaube, sie haben wirklich geglaubt, sie müssten dieses Geheimnis bewahren, um eine perfekte Welt zu erschaffen. Wahrscheinlich haben sie gedacht, sie täten das Beste für ihre Kinder, indem sie ihnen einen besseren Ort zum Leben boten, ohne sie mit der Wahrheit zu belasten.« Seine Stimmung verfinsterte sich. »So war das in Giseth auch. Es war nicht bloß der Alptraum, der die Leute bei der Stange gehalten hat – es war ja so viel leichter, nicht nachdenken zu müssen. Sich keine Fragen zu stellen, sondern einfach zu akzeptieren, dass man sein Leben so zu leben hatte, wie es alle anderen auch taten.« Er schüttelte den Kopf. »Ich denke, wenn man ums Überleben kämpfen muss, hat man wohl keine Zeit, sich mit der Geschichte zu befassen?«
    Ben nickte nachdenklich. »Vielleicht sollten wir es dabei belassen«, sagte sie und streckte sich. »Das Letzte, was wir erreichen möchten, ist, erneut Leute in Wut zu versetzen. Diese Massen auf den Straßen sind jetzt schon schlimm genug …« Sie hielt inne und neigte den Kopf leicht zur Seite.
    »Was hast du?«, fragte Mark, der sah, wie ein besorgter Ausdruck über ihr Gesicht huschte.
    »Mark«, sagte sie leise, »hörst du nichts?«
    Mark lauschte. Sofort bereute er es. »Sind das Rufe, die da von oben kommen?«
    Ben nickte nervös. »Hört sich nach einer Menschenmenge an«, sagte sie.
    »Mmmm«, brummte Mark unbehaglich. »Mehr als üblich. Viel mehr.«
    »Bestimmt lassen die Felsen es nur widerhallen und dadurch lauter klingen«, sagte Ben hastig. »Genau wie in Naru.«
    »Ja, natürlich«, erwiderte Mark ein wenig zu schnell. »So wird es sein.«
    Keiner der beiden wollte sich in Erinnerung rufen, dass das Orakel etwas von Schreckensschreien auf den Straßen von Agora gesagt hatte. Erst recht nicht jetzt, da das erste Licht von oben herabfiel und ihre Reise an die Erdoberfläche fast zu Ende war.
    Als sie das Haus des Letzten erreicht hatten, war das Geschrei verklungen.

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