Das Land des letzten Orakels
nun wieder sicher ist, die Türen zu öffnen.« Kalt lächelnd wandte sich Miss Devine ab. »Ich bin nicht sicher, ob das eine kluge Entscheidung ist.«
Sie kehrte in ihren Laden zurück und schloss die Tür hinter sich.
Stumm starrten sich Mark und Ben an. Die ganzen Informationen überstiegen ihr Vorstellungsvermögen; sie brauchten einen Moment, um sich darauf einzustellen, einen Moment, um sich darauf vorzubereiten, ihren Freunden gegenüberzutreten.
Doch dazu bekamen sie keine Gelegenheit. Die Tür des Tempels wurde einen Spaltbreit geöffnet.
»Wer ist da? Wir haben nicht geöffnet, wir …« Die aus dem Innern des Tempels dringende Stimme hielt mit einem Laut des Erstaunens inne, und die Tür wurde weit aufgeschlagen.
»Theo!«, rief Verity begeistert. »Es sind Mr Mark und Miss Benedicta! Es geht ihnen gut!«
Durch die Tür konnte Mark sehen, dass Theo mit freudiger und hoffnungsvoller Miene auf sie zukam. Hinter ihm drängte sich eine Gruppe verängstigter Menschen zusammen, die auf gute Nachrichten warteten. Er versuchte sich an einem Lächeln.
Nach wie vor strahlend schaute Verity an ihnen vorbei. »Und Lily? Ist sie bei euch?«, fragte sie.
Marks Lächeln verschwand so rasch, wie es gekommen war. Wie es schien, war nun er an der Reihe damit, eine Geschichte zu erzählen.
»Tja«, begann er. »Sie braucht wahrscheinlich noch ein bisschen länger …«
KAPITEL 15
Glauben
Es war ein natürliches Licht, davon war Laud überzeugt.
Er zwang sich trotz seiner schmerzenden Beine dazu weiterzuklettern. Zunächst hatte es so ausgesehen, als winde sich die Steintreppe unendlich weit hinauf, doch nun erkannte er etwas, das wie Tageslicht aussah und von oben herabfiel.
Seine Kehle war ausgetrocknet, und sein Magen knurrte. Es war schon eine Weile her, dass er die letzten Proviantreste gegessen hatte, doch wie lange, vermochte er nicht zu sagen. Im Laufe der Zeit war er dazu übergegangen, immer dann zu schlafen, wenn das Geplapper der Kakophonie für kurze Zeit nachließ, statt sich an so etwas wie einen festen Plan zu halten. Er musste schon tagelang in den Stollen umhergeirrt sein, doch manchmal hatte er das Gefühl, es wären Jahre. Oder nur Stunden.
Er wurde sich bewusst, dass er Selbstgespräche führte und beim Hinaufsteigen die Steinstufen mitzählte. Dazu war er übergegangen, nachdem ihm das Lampenöl ausgegangen war. Er wollte lieber seine eigene Stimme hören als die endlosen Echos aus den pechschwarzen Höhlen.
Was wird kommen? Warum? Welcher? Wo? Wen? Weshalb?
»Tausendfünfhundertachtundfünfzig …«, murmelte Laud vor sich hin. Zwar war er schon vor einiger Zeit mit den genauen Zahlen durcheinandergekommen, doch alles war besser, als den Stimmen zu lauschen. Momentan stellten sie Fragen, was nicht ganz so schlimm war. Manchmal hingegen flüsterten sie Geheimnisse, die ihn erröten ließen, oder sie stießen Verwünschungen und Drohungen aus. Einmal, als er gerade einen Stollen passierte, aus dessen Seitenwänden messerscharfe Felsspitzen ragten, hatten sie lediglich dümmliche Begrüßungsfloskeln geplappert, sodass er sich vorkam, als folge ihm ein Heer von Idioten, dicht hinter ihm und unmöglich zum Schweigen zu bringen.
Doch mit alledem konnte er umgehen. Er wusste, dass die Stimmen, so laut sie auch sein mochten, lediglich Töne waren. Das Problem war nur, dass diese Töne mitunter vertraut klangen.
Er hatte gedacht, Lilys Stimme zu hören würde das Schlimmste sein. Und tatsächlich konnte er sie immer aus den anderen heraushören, wenn auch verzerrt. Doch irgendwie ließ ihn dies auch hoffen. Selbst wenn sie weinte oder tobte, so war sie doch am Leben. Es hielt seine müden, mit Blasen bedeckten Füße auf Trab.
Nein, das Schlimmste waren die alten Echos, jene Töne, die er seit jüngster Kindheit nicht mehr vernommen hatte.
Manchmal waren sie ganz schlicht. Der Ruf des Nussverkäufers, der auf der anderen Straßenseite gewohnt hatte. Das Geräusch seiner spielenden Freunde. Er erinnerte sich noch daran. Es war eine Zeit gewesen, in der er gespielt und Freunde gehabt hatte. Bevor ihm die Eltern genommen worden waren und er hatte fortgehen und arbeiten müssen. Es war, bevor er erkannt hatte, wie die Stadt wirklich war.
Trotzdem, es hätte schlimmer kommen können. Er hätte die Stimme von Gloria hören können, seiner verstorbenen Schwester. Die Kakophonie hätte ihre Stimme herbeirufen können, ein wenig zu fröhlich, als sie versuchte, ihrer Mutter das Heft aus der Hand
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