Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Land des letzten Orakels

Titel: Das Land des letzten Orakels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Whitley
Vom Netzwerk:
die Arme aus und streckte sie ihm entgegen, um sein Gesicht zu berühren. Laud bemerkte, dass ihre Nägel blutig waren.
    »Lily?«, sagte er und nahm sie an der Hand. »Bin ich froh, dass ich dich gefunden habe …«
    »Mich gefunden? Hast du das?« Lily lächelte. »Gut. Ich suche mich schon den ganzen Tag.« Sie schlug seine Hand weg. »Hör zu, fass mich nicht an. Ich bin ganz zerbrechlich.«
    Mit überraschender Leichtigkeit wirbelte sie herum, und der Nebel verschlang sie.
    »Lily?«, sagte Laud beunruhigt. »Lily, wo bist du?«
    »Überall, in dieses Land geprägt, das ist sie«, erklang Lilys Stimme, leiser werdend. »Von ihr kommt man nicht weg. Man sollte meinen, sie wäre der einzige Mensch auf der Welt …«
    Laud tastete nach ihr, vernahm aber lediglich ihre Stimme, hell, hoch und unnatürlich schrill.
    »Warte!«, sagte Laud und rannte ihr hinterher.
    »Halte deine Gedanken freundlich und ansprechend …«, sang Lily. »Er mag sie so. Voller Furcht und Reue …«
    Lily tauchte vor ihm wieder auf und drehte eine Pirouette auf einem Bein.
    »Lily …«, rief Laud. »Bitte, bleib doch stehen und hör mir zu.«
    »Nein danke«, sagte sie leichthin. »Ich habe schon zu viel zugehört. Immer habe ich Menschen gesucht, die mir etwas erzählen. Das hätte ich nicht tun sollen. Zu viel, weißt du. Alles voll. Nichts mehr. Nichts mehr.« Plötzlich blieb sie angespannt stehen und betrachtete den Nebel um sich herum. »Es kommt wieder«, verkündete sie leise. »Bleib nicht hier. Es wird dir nicht gefallen.«
    »Was?«, fragte Laud und schüttelte den Kopf. »Was wird kommen …«
    Lily fing an zu schreien.
    Laud packte sie und beschwor sie, damit aufzuhören, doch sie fuhr damit fort, lauter, immer lauter werdend, bis Laud sie loslassen musste, um sich die Ohren zuhalten zu können. Trotzdem konnte er das Geschrei nicht ausblenden. Es klang so verzweifelt, so voller Schmerz, und der Nebel um sie her schien dadurch zu gären, um Lily herumzuwirbeln, so als tanze er vor Freude.
    Abrupt verstummte Lily und lächelte vage. »Das war weniger als sonst«, sagte sie mit vor Anstrengung krächzender Stimme. »Bestimmt langweilt er sich allmählich mit mir.«
    »Wer …?«, brachte Laud heraus und nahm die Hände von den Ohren. Lily blinzelte mit den Augen.
    »Der Alptraum natürlich … Bist du nicht …?« Ihre Augen weiteten sich vor Angst. »Nein, das kannst nicht du sein … du bist gar nicht hier!« Sie packte seine Hand und zog sie sich dicht vor die Augen, um sie zu mustern. »Es sieht echt aus, riecht echt …« Sie leckte an seinem noch immer schlammverkrusteten Finger und spuckte aus. »Und schmeckt auch echt, denke ich. Aber es hört sich nicht richtig an. Laud hätte mittlerweile mehr geredet. Still ist er noch nie gewesen. Immer scharf, immer bittersüß … nicht wie Salz und Schlamm …«
    Laud spürte, wie seine Gedanken sich erneut verdüsterten. Er hätte gern in gleicher Weise reagieren wollen, seinen Geist umherstreifen lassen wie den ihren. Allen Stress und alle Gefahr vergessen, um ihr durch die Sümpfe nachzujagen, in ihrer Welt verloren.
    Doch das konnte er nicht. Er musste sie zurückholen.
    »Lily, ich bin es«, sagte er und ergriff ihre Hand. »Mein echtes Ich.«
    »Wer ist dein echtes Ich, Laud?«, fragte sie. »Weißt du denn alles über dich? Bist du sicher, dass du kein anderer bist, seit du dich erinnern kannst? Hast du dich verraten, Laud?« Sie ließ seine Hand los. »Der Verrat unserer Väter«, sagte sie mit feierlicher Stimme. »Sie haben uns im Stich gelassen. Aufgegeben. Wir waren ganz auf uns allein gestellt, haben zu einer Musik getanzt, die sie schon lange hatten verstummen lassen. Mit ihrer Anleitung hätte es uns wunderbar gehen können. Aber sie haben uns im Stich gelassen. Haben uns den falschen Weg gehen und uns im Leid suhlen lassen, damit wir es nie, nie wiedergutmachen können …«
    Laud begriff, dass er sie wieder verlor. Ihre Augen wurden glasig.
    »Lily, geh nicht«, sagte er. »Du bist nicht allein. Ich bin dir den ganzen Weg gefolgt.«
    »Nein«, sagte Lily und schüttelte den Kopf, sodass ihr verfilztes Haar hin und her peitschte. »Du bist nicht wirklich da, nicht echt. Das ist bloß ein Trick. Zu aufrichtig, zu sanft. Du bist nicht der Laud, den ich kenne.«
    Laud zog unwillkürlich die Brauen hoch. »Wäre es dir lieber, wenn ich eine Bemerkung über den Schlamm machen würde? Es sieht so aus, als hättest du dich darin gesuhlt …«, fing er an, hielt dann aber

Weitere Kostenlose Bücher