Das Land des letzten Orakels
dass sie uns sehen? Es ist Zeit zu gehen.«
Noch verwirrter als zuvor drehte Mark sich um und rannte von dem Platz weg.
Mark und Ben hasteten stumm zum Tempel. In der Nähe des Platzes wimmelte es von Menschen. Es waren wütende, angsterfüllte Menschen. Manche hatten den gleichen Ausdruck heftiger Wut im Gesicht, den Mark bei den Randalierern gesehen hatte. Doch die Mehrheit wirkte eher erschrocken. Beunruhigend war jedoch die Tatsache, dass allem Anschein nach niemand Handel trieb. Während sie weiterliefen, trafen sie auf immer weniger Menschen, und als sie die vertrauten Straßen um den Tempel erreichten, waren sie wieder für sich. Alle Geschäfte waren geschlossen, von Straßenhändlern war keine Spur zu sehen. Sogar Miss Devines Laden, um den sich sonst immer ein paar Gefühlsabhängige mit eingefallenem Gesicht drückten, war geschlossen und lag verlassen da.
Als der Tempel in Sicht kam, erkannten sie, dass das Leuchtfeuer, wie sie das Licht über der Tür nannten, nicht brannte und auch keine Schlange Schuldner davorstand wie normalerweise. Mark rannte zu der großen Holztür und drückte die Klinke herunter. Die Tür war verschlossen.
»Aber … wir schließen doch nie ab«, sagte Ben, während sie sich zu ihm gesellte. »Nicht tagsüber. Die Türen des Tempels stehen immer offen.«
Mark klopfte an die Tür, doch niemand reagierte. Dann hämmerte er dagegen, sodass die Scharniere klapperten. Nach wie vor nichts.
»Vielleicht haben die Eintreiber angegriffen«, mutmaßte Ben und runzelte die Stirn. »Nein, das ergibt keinen Sinn, sie sind alle auf der anderen Seite der Barrikade, und eine ganze Streife könnte auf dem Weg, den wir genommen haben, nicht unbemerkt an den Randalierern vorbeischleichen …«
»Das ist nicht das Werk der Eintreiber«, sagte Mark finster. »Es ist das Werk von Crede.«
»Auf gewisse Weise haben Sie recht, Mr Mark«, sagte eine allzu vertraute Stimme.
Mark wirbelte herum. Neben ihm schnaubte Ben.
Miss Devine stand in der Tür ihres Etablissements, und ein Anflug von Belustigung huschte über ihr Gesicht.
»Miss Devine«, sagte Ben vorsichtig. »Was wollen Sie?«
So kühl hatte Mark Ben noch nie reden hören. Aber überraschend war es nun auch wieder nicht. Bens Schwester Gloria war eine der treuesten Kundinnen der Gefühlsverkäuferin gewesen. Diese Abhängigkeit hatte ihr Leben beherrscht und letzten Endes zu ihrem Tod geführt. Doch falls Miss Devine sich in Bens Gegenwart unwohl fühlte, ließ sie es sich nicht anmerken.
»Sehr wenig«, erwiderte Miss Devine, »wenn ich auch zugeben muss, dass Ihr heftiges Klopfen meine Neugier geweckt hat. Ich frage mich, wo Sie beide gewesen sein könnten. Ich habe Sie seit Tagen nicht mehr gesehen …«
Mark machte Anstalten zu antworten, legte sich bereits eine Geschichte zurecht, doch Ben schnitt ihm das Wort ab.
»Beachte sie nicht, Mark. Wahrscheinlich steckt sie mit Crede unter einer Decke.«
Ben drehte der Frau den Rücken zu und spannte sich an. Doch die Reaktion, die Miss Devine zeigte, war das Letzte, was Mark erwartet hätte. Sie lachte, und dieses Lachen hatte einen harten, bitteren Klang.
»Ich fürchte nein, Miss Benedicta«, sagte sie. »Mr Crede ist tot.«
Eine längere Pause entstand. Plötzlich ergab alles, was sie auf ihrem Weg hierhin gesehen hatten, einen Sinn. Der Eindruck von kochender Wut bei den Leuten, der regelrechte Krieg zwischen Eintreibern und Randalierern. Crede war gefährlich gewesen, doch er war auch ein Anführer und hatte es fertiggebracht, die ganze Wut, die er anstachelte, zu bündeln. Aber wenn Crede nicht mehr war …
»Wie ist das geschehen?«, wollte Mark wissen. Er konnte es kaum fassen. Miss Devine verschränkte die Arme und schien sich einen Moment in ihren Gedanken zu verlieren.
»Es begann vor fünf Tagen«, erzählte sie mit leiser Stimme, ganz ohne Dramatik. »Es war eine außergewöhnliche Nachricht, sie war in aller Munde. Chefinspektor Greaves hatte angekündigt, er wolle sich mit Crede treffen, um über ein Ende der Unruhen zu verhandeln. Einige hielten das für einen Trick, während andere, darunter eure Freunde im Tempel, daran glaubten, er wäre wirklich gewillt, eine Einigung zu erzielen, um die Gewalt auf den Straßen zu beenden.« Miss Devine zuckte mit den Schultern. »Nur die wenigsten glaubten, dass die Sache Erfolg haben könnte, doch Crede erklärte sich zu einem Treffen in der Öffentlichkeit bereit, eine Stunde vor Sonnenuntergang noch am gleichen
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