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Das Land des letzten Orakels

Titel: Das Land des letzten Orakels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Whitley
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nichts mehr gegessen …«
    Laud packte den Mann an der Kutte. »Wo. Ist. Sie?«, fragte er drohend.
    Der Mann beruhigte sich. »In den Sümpfen«, sagte er. »Aber Sie dürfen ihr nicht folgen. Sie sollten sich ausruhen und darauf vorbereiten …«
    »Habe ich Zeit, mich auszuruhen?«, fragte Laud, ohne loszulassen. »Habe ich wirklich eine Wahl? Wird Lily in Sicherheit sein, wenn ich trödele?«
    Trotz aller Narben war es nicht schwer, einen schuldbewussten Ausdruck im Gesicht des Mannes auszumachen. »Nein, aber ich darf nicht zulassen, dass Sie beide dorthin gehen. Einer von Ihnen sollte bereit sein …« Er hielt inne. Laud war sich nicht sicher, welcher Ausdruck in seinem Gesicht stand. Aber wenn er auch nur einen Bruchteil dessen ausdrückte, was gerade in seinem Kopf vorging, dann überraschte es ihn nicht, dass der Mann seine Einwände fallen gelassen hatte.
    Laud war zumute, als würde er jeden Moment durchdrehen.
    »Ich bringe Sie zur Tür«, sagte der Mann ruhig.
    Der Nebel bildete eine dichte, dicke Decke. Nach den Wochen in den Stollen war Laud die kalte Luft trotzdem willkommen.
    Der Mann, der sich Honorius nannte und Pförtner der Kathedrale war, hatte ihn ermahnt, auf dem Weg hinab zu den Sümpfen Vorsicht walten zu lassen. Nichtsdestotrotz rannte Laud so schnell, dass zu beiden Seiten kleine Steine aufspritzten.
    Honorius hatte ihn auch ermahnt, er solle eine Pause einlegen. Falls er zurückkommen müsse, solle er nicht zu der glänzenden Kathedrale zurückkehren, sondern das Sanatorium aufsuchen, auf der anderen Seite der Landzunge. Dort würden auf ihn und Lily weiche Betten warten. Doch als Laud den Fuß der Klippe erreicht hatte, rannte er nur noch schneller.
    Vor allem aber hatte der Mann ihn ermahnt, vorsichtig zu sein, sich nicht mitten hinein in die tückischen Sümpfe zu begeben, da dort etwas herrsche, das er Alptraum nannte.
    Laud war nicht gut darin, Ratschläge zu befolgen.
    Doch kaum dass er die Sümpfe betrat, spürte er es. Es war ein Gefühl, als ob er beobachtet würde, so wie ein Druck im Kopf. Etwas Ähnliches hatte er im Thronsaal des Orakels empfunden, doch dort war es verborgen gewesen, nur am Rand seiner Gedankengänge. Hier drängte sich seine Gegenwart von allen Seiten auf.
    Da Schlamm an seinen Stiefeln klebte, kam Laud allmählich nur noch langsam voran. Eine innere Stimme flüsterte ihm ein, er solle zurückkehren. Lily wolle gar nicht gefunden werden, werde ihn dafür, dass er ihr folgte, mit Häme überschütten. Er sei nutzlos, wertlos … ihrer Aufmerksamkeit nicht würdig …
    Vom Schlamm stieg ein ganzer Schwarm Insekten auf. Laud fuhr zurück und schlug nach ihnen, worauf er wieder einen klaren Kopf bekam.
    »Gib dir keine Mühe«, fauchte er den Nebel an. »Ich habe schon Schlimmeres erlebt als dich, Alptraum. So einfach lasse ich mich nicht abschrecken.«
    Er konzentrierte sich auf eine Sache: auf Lily. Auf ihr Gesicht, ihre Stimme, ihren nicht unterzukriegenden Willen. So, wie er sie in Erinnerung hatte.
    »Lily!«, rief er.
    Seine Stimme wurde vom Nebel verschluckt.
    Er stapfte weiter. Der Nebel schnürte ihm die Kehle zu. Abgesehen von seinen langen weißen Schwaden konnte er überhaupt nichts erkennen. Der Schlamm unter ihm wurde weich und matschig, doch Laud zwang sich dazu weiterzugehen.
    »Lily!«, rief er immer wieder. »Lily!«
    Urplötzlich hörte er sie.
    »Du hast keine Blumen mitgebracht.«
    Die Stimme war ein Wispern, und er vernahm sie dicht an seinem Ohr. Laud fuhr zusammen und stürzte kopfüber in den Schlamm.
    »Wenn man eine Dame besucht, muss man Blumen mitbringen. Das gebietet der Anstand.«
    Laud rappelte sich wieder auf und drehte sich um.
    Lily stand leichtfüßig auf der Oberfläche des Morastes. Ihr Rock war voller Schlamm und hing schwer an ihrem dünnen Körper herab. Sie schwankte, so als stünde sie in einer steifen Brise. Sie lachte, tat dies jedoch, ohne zu lächeln. Und ihr Blick wanderte unstet umher, ohne zur Ruhe zu kommen.
    Laud starrte sie entgeistert an. Etwas stimmte hier nicht, stimmte ganz und gar nicht. Das Mädchen, das wie Lily aussah, beugte sich vor und starrte ihn an.
    »Blumen? Lilien? Lilien für die Toten und die beinahe Toten und die immer Toten.« Ihre Stimme klang seltsam und angespannt, sprudelte jedoch so, als wäre Lily völlig sorglos. »Aber Blumen für die niemals Lebenden? Wie würden die wohl aussehen? Rosen vielleicht. Ich hätte gerne Rosen von dir. Warum hast du keine mitgebracht?«
    Sie breitete

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