Das Land des letzten Orakels
Tag.«
»War es eine Falle?«, fragte Mark.
Miss Devines Blick war unergründlich. »Das behaupten Credes Anhänger, aber ich bezweifle, dass Greaves so skrupellos ist. Ich ging zu dem Treffen, weil es in einer so aufregenden Zeit natürlich keine Kunden geben würde und ich mich außerdem für öffentliche Ereignisse interessiere.«
»Ja, das kann ich mir gut vorstellen«, murmelte Mark, der sich daran erinnerte, dass Miss Devine an Credes Versammlungen teilgenommen hatte. Falls die Gefühlsverkäuferin ihn gehört hatte, ließ sie es sich nicht anmerken.
»Als ich ankam, war der Platz schon voll«, fuhr sie fort. »Ich musste von der Schütze-Brücke aus zusehen. Selbst aus dieser Entfernung erkannte ich, dass die Debatte bereits« – sie wählte ihre Worte sorgsam – »heftig geführt wurde. Sie hatten zwei Zuschauertribünen vom Agora-Tag aufgestellt, damit sie reden konnten, ohne sich allzu nahe zu kommen, und so auch verhinderten, dass ihre Anhänger aneinandergerieten. Sie sollten eigentlich allein auf ihren Plattformen stehen, aber beide hatten eine Reihe von Freunden bei sich. Mr Nick war zwar nicht bei Crede, wohl aber Miss Cherubina.« Miss Devine kräuselte einen winzigen Moment lang die Lippen. »Sie wirkte ganz wie ein Heißsporn. Greaves hatte natürlich Poleyn bei sich, um die Eintreiber auf seiner Seite des Platzes unter Kontrolle zu behalten. Seiner Taktik sollte kein Erfolg beschieden sein.«
»Sie haben bestimmt nichts unternommen, um zu helfen«, sagte Benedicta säuerlich.
Miss Devine ging nicht auf die Bemerkung ein. »Das Geschehen war zu Anfang vorhersehbar. Greaves gab hohle Worte des Verständnisses von sich, und Crede hielt seine üblichen Reden, in denen er alles anprangerte, wofür das Direktorium steht. Die Menge war auf seiner Seite. Ich muss aber zugeben, dass Greaves im Laufe der Zeit immer überzeugender wirkte. Er sprach von Ehre und Vertrauen und davon, als Gleicher unter Gleichen weiterzumachen. Damit brachte er bei Crede eine Saite zum Klingen. Die Menge hingegen ließ sich nicht so einfach umstimmen. Die Leute begannen untereinander zu streiten.« Miss Devine redete nun ein wenig schneller und steigerte sich in ihre Erzählung hinein. »Es kam zu gewalttätigen Auseinandersetzungen, die Schlägereien zwischen Schuldnern und den Bediensteten der Oberen der Gesellschaft weiteten sich aus und wurden brutaler. Schließlich flogen auch Gegenstände durch die Luft. Kleine Gegenstände – Flaschen, Stoffbeutel, ja sogar Gemüse. Eine Reihe von Händlern machten ein gutes Geschäft, indem sie diesen Streit nährten. Dann warf jemand einen Pflasterstein. Groß war er nicht, aber er flog direkt in Richtung der Plattform, auf der Crede stand. Ich weiß nicht, ob er weiterflog oder ein Ziel traf. Ich weiß nur, dass Crede wie vom Blitz gefällt zu Boden stürzte.«
Mark spürte, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich. »Ist er …?«, begann er seine Frage, doch Miss Devine kam ihm zuvor.
»Crede starb in Miss Cherubinas Armen«, berichtete sie leidenschaftslos. »Die Wut der Menge war kaum noch zu zügeln. Greaves gelang es nur knapp, mit dem Leben davonzukommen, der eine oder andere Eintreiber hatte nicht so viel Glück. Die ersten Unruhen dauerten die ganze Nacht. Wie es scheint, hatten beide Seiten für diesen Fall Vorkehrungen getroffen. Nach Sonnenaufgang ebbten die gewaltsamen Auseinandersetzungen ein wenig ab, aber bis dahin verlief eine Barrikade quer durch die ganze Stadt.« Miss Devine deutete auf die menschenleere Straße. »Und wir, Mr Mark, befinden uns in dem Teil der Stadt, der voller Rebellen ist, die Blut für den Mord an ihrem Anführer fordern.«
Die drei standen schweigend da. Alles, was Mark vor Augen stand, war ein einzelnes Bild – Cherubina, die Crede, der eine schreckliche Wunde an der Schläfe hatte, in den Armen hielt, während die Menge überall um sie herum tobte. Und im Hintergrund die drohend aufragende Silhouette von Nick, Credes rechter Hand, genau wie Mark ihn aus seiner letzten Begegnung in Erinnerung hatte – einen großen Pflasterstein mit der Hand umklammernd.
An der Seite erklang das Geräusch von quietschendem Metall. Mark erkannte, dass es von der Tür des Tempels stammte – es war das Geräusch eines Schlüssels, der sich in einem verrosteten Schloss drehte.
»Nun, wie es scheint, hat Ihr Klopfen letztendlich doch die Aufmerksamkeit Ihrer Freunde auf sich gezogen«, bemerkte Miss Devine. »Vielleicht haben sie das Gefühl, dass es
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