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Das Land hinter den Nebeln - Buch der Seelen 02

Das Land hinter den Nebeln - Buch der Seelen 02

Titel: Das Land hinter den Nebeln - Buch der Seelen 02 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Kendall
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nicht daran, Bursche!«
    »Aber jetzt seid Ihr tot.«
    »So sieht es aus.« Ein erstaunter Ausdruck ging über ihr Gesicht, und ich konnte sehen, wie sie wieder in den ruhigen Dämmerzustand der Toten abglitt. Wieder schüttelte ich sie am Arm und sagte verzweifelt: »Ihr wart das hübscheste Mädchen in Eurem…« Dorf? Nachbarschaft? »In Eurer Gegend.«
    Sie wurde wieder lebendig. »Nun, nein, das kann ich nicht behaupten, Bursche. Nell Goodman war hübscher. Ach, einmal haben Nell und ich…«
    »Gevatterin, gibt es hier einen Hisaf?«
    »Einen was?«
    »Einen Hisaf!«
    »Red deutlich, Bursche. Das ist kein Wort. Kein ›Hisaf‹ auf der Heide von Barrington, wo Nell Goodman und ich…«
    »Aber hier, jetzt! Wenn Ihr dasitzt und wartet, worauf wartet Ihr da? Was fühlt Ihr?«
    Ihre Verblüffung ging in Zorn über. »Ich bin tot, Bursche. Ich warte auf nichts!«
    »Und spürt Ihr, dass außer Euch noch jemand da ist?«
    »Du bist hier, Bursche, und einen lästigeren Dummkopf habe ich noch nie getroffen!«
    »Aber ist in Eurem Verstand jemand, der…«
    Sie war fort. Der Dämmerzustand hatte sie wieder. Wenn ich sie noch einmal am Arm schüttelte, war alles, was ich bekommen würde, eine langweilige Geschichte über Nell Goodman, die sechzig Jahre zurücklag. Ich hatte nichts erfahren.
    Oder vielleicht doch. Wenn die Gevatterin Sally Cleggers erlebt hätte, dass Leute aus dem Seelenrankenmoor anwesend waren, während sie sich in ihrem ruhigen Dämmerzustand befand, hätte sie es nicht gewusst? Wäre sie nicht erschrocken erwacht, genauso wie ich vor zwei Jahren erschrocken gewesen war, als ich den Pfad der Seelen betreten und diesen dichten, klammen Nebel gespürt hatte, der an meinem Verstand knabberte? Vielleicht nicht. Ich wusste nicht, was die Toten spürten. Ich war noch unter den Lebenden.
    Oder vielleicht doch nicht. Ich wusste nicht, was die Soldaten des Junghäuptlings dort in der Schlafkammer im ersten Stock jenes gemütlichen Hauses mit meinem hilflosen Körper anstellten. Es war möglich, dass ich schon unter den Toten weilte und es nicht wusste, bis ich zurückkehrte– falls ich zurückkehren konnte.
    Und nun packte mich das Grauen. Ich hatte Cecilia von den Toten zurückgebracht. Ich hatte den Seemann Kauz zurückgebracht. Ich hatte die ganze Armee der Blauen zurückgebracht, die Soleks Männer zurückgeschlagen hatten, weil man die Blauen nicht verletzen oder ein zweites Mal hatte töten können. Aber zwei Wochen nach ihrer Wiederkehr hatte sich jeder Einzelne von ihnen aufgelöst, nicht einmal Staub war zurückgeblieben. Sie waren für immer verschwunden, konnten weder unter den Lebenden noch unter den Toten wiedergefunden werden. Würde dieses Schicksal nun auch mich ereilen?
    Wenn ich in diesem Augenblick im Land der Lebenden zu Tode gefoltert wurde und dann vom Pfad der Seelen zurückkehrte, würde es dann sein, als hätte ich mich selbst von den Toten zurückgebracht? Würde ich zwei Wochen auf der anderen Seite leben und dann auf groteske Weise verschwinden, meine Aussicht auf die Ewigkeit verwirkt?
    Ich wusste es nicht. Ich wusste gar nichts. Ich hatte Angst davor hierzubleiben und Angst davor zurückzukehren. Furcht schnürte mir die Brust ein, bis mein Atem rasch und flach kam und mein Herz fest genug hämmerte, um wehzutun. Ich legte den Kopf in die Hände, und dort, im stillen Land der Toten, weinte und schluchzte ich wie der Sechsjährige, der ich einst gewesen war, der seine Mutter an einen Tod verloren hatte, den er nicht verstehen konnte.

9
    Ich blieb noch länger im Land der Toten, aber ich konnte nicht für immer bleiben. Es gab keine Möglichkeit herauszufinden, ob hier mehr oder weniger Zeit vergangen war als im Land der Lebenden; Zeit ist in den beiden Reichen nicht dasselbe. Wie auch immer, wenn der Schmerz auf der anderen Seite zu groß war, konnte ich jederzeit wieder den Pfad der Seelen betreten. Meine Peiniger konnten mir diese Fluchtmöglichkeit nicht wegnehmen. Sie gehörte mir.
    Trotz meiner Angst musste ich wissen, ob ich in der winzigen Schlafkammer im Königinnenreich schon gestorben war. Ich blickte ein letztes Mal zu dem rätselhaften grauen Nebel, der dünn und reglos um den Kreis der Toten lag. Dann biss ich mir auf die Zunge und kehrte vom Pfad der Seelen zurück.
    Dunkelheit …
    Kälte …
    Erstickender Dreck in meinem Mund …
    Würmer in meinen Augen …
    Erde, die meine fleischlosen Arme und Beine umschloss …
    Ich war zurück in meinem Körper in der

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