Das Land hinter den Nebeln - Buch der Seelen 02
überhaupt etwas vorging, konnte ich nicht ahnen. Wenn im Land der Toten etwas vor sich ging, konnte ich es auch nicht ahnen.
Etwas ahnte ich jedoch. Dieser Nebel war nicht natürlich, und wenn er tatsächlich irgendeine schattenhafte Anwesenheit jener darstellte, die im Seelenrankenmoor lebten, dann konnten sie nur auf eine Weise den Pfad der Seelen betreten haben: in der Gesellschaft eines Hisafs, wie ich es war. Und ich hatte diesen Nebel nicht mitgebracht. Ich hatte einen Stuhl, ein Seil, ein grausames Folterinstrument und einen blutigen Kopf mitgebracht, aber keinen Nebel. Wer also war es gewesen? Gab es hier einen weiteren Hisaf?
Der einzige andere Hisaf, von dem ich je gehört hatte, war mein Vater, der meine Mutter und mich so früh verlassen hatte, dass ich mich nicht an ihn erinnern konnte. Aber ein grünäugiger Alter aus dem Seelenrankenmoor, der Anführer in Hygryll, hatte mir einmal verraten, wer mein Erzeuger war: »Dein Vater ist ein Hisaf . Sonst könntest du keiner sein.«
Vorsichtig, als könnte ich zersplittern, rutschte ich von dem toten Knecht weg, aus dem Nebel heraus und kam auf die Füße. Ich drehte mich langsam, musterte alles, was ich sehen konnte. Gras, ein kleines Wäldchen, einen Teich, einige Felsen und Büsche und Kräuter und die Toten. Ganz am Rande meines Sichtkreises war ein blasses Schimmern in der reglosen Luft. Ich ging darauf zu.
Es war ein weiterer Kreis der Toten, diesmal bestand er aus zehn Leuten– einer der größten Kreise, die ich je gesehen hatte. Dünner perlgrauer Nebel umgab jede Gestalt, und eine Nebelschwade verharrte in der Mitte des Kreises. Wieder kniete ich mich neben einen der Toten, eine alte Frau, und legte meinen Kopf dicht an ihren. Abermals schien ich ein schwaches Kribbeln im Geiste zu spüren, das der starken Präsenz des Nebels, die ich im Seelenrankenmoor bemerkt hatte, zu wenig ähnelte, als dass ich mir sicher sein konnte, überhaupt etwas zu spüren.
Am ehesten sind es die alten Frauen, die sich mit mir unterhalten wollen. Ich zog mich von derjenigen vor mir zurück und schüttelte sie grob, bis sie aufwachte.
»Bei der Gnade des Herrn, Bursche, was zum Dreck, glaubst du, tust du hier? Verzieh dich!« Sie schubste mich grob, und ich fiel nach hinten aufs Gras. Sie mochte vielleicht tot sein, aber sie war stark.
»Gute Dame…«
»Jawohl, und du wirst mich beim Namen nennen, wenn du überhaupt mit mir redest!«
»Ich… es tut mir leid. Wie heißt Ihr?«
»Du erkennst mich nicht?« Sie stieß einen lauten Seufzer aus, theatralisch übertrieben, und klimperte mit den Wimpern. Schließlich war ich so geistreich, ihre Aufmachung zu bemerken: ein Kleid, das so tief ausgeschnitten war, dass die Hofdamen der Königin errötet wären. Ihre schlabberigen Brüste mit den braunen Flecken standen kurz davor, aus dem schweißbefleckten Satin zu quellen, und ihr Rock war so kurz, dass er Seidenstrümpfe enthüllte, die gleich unter den Knien mit Strumpfbändern befestigt waren, eingefasst mit falschen Diamanten. Rosarote und weiße Schminke lag dick auf ihrem faltigen Gesicht. Ich hatte eine alte Puffmutter wachgerüttelt.
»Es gab eine Zeit, Bursche, da hättest du meinen Namen sicher gekannt. Ich bin Sally Cleggers, die einstige Geliebte von… aber ich darf es nicht sagen, oder soll ich? Eure hohen Tiere halten ihr Liebesleben verborgen, wenn sie können!« Sie blinzelte mir zu und blickte sich um. »Ich bin also tot, was?«
»Ja, Gevatterin Cleggers. Könnt Ihr mir sagen…«
»Nun, wir müssen alle irgendwann einmal sterben. Ich hatte ein langes und fröhliches Leben. Ach, ich kann mich erinnern, einmal, als ich ein Kind war…«
»Ja«, sagte ich hastig. Die älteren Toten schwatzten vergnügt von ihrer Kindheit; tatsächlich ist es in der Regel alles, worüber sie sprechen wollen. Ihr erwachsenes Selbst, ihr verlorenes Leben, die Familien, die sie hinter sich lassen– sie bedeuten ihnen nichts. Aber sie selbst als kleine Kinder, das macht sie hin und wieder lebendig. Manchmal zumindest. Vielleicht, weil es kleine Kinder sind, die in ihrer Einfachheit dem näherstehen, was die Toten jetzt sind. Ich weiß es nicht. Keines der Kinder hier, genauso wenig wie die Erwachsenen unter sechzig Jahren, hat je zu mir gesprochen oder auch nur so ausgesehen, als würde er oder sie mich wahrnehmen. »Ihr wart ein einnehmendes Kind, Gevatterin Cleggers.«
»Das war ich!«, sagte sie, reckte ihr Kinn vor und kniff die Augen zusammen. »Zweifle bloß
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