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Das Land hinter den Nebeln - Buch der Seelen 02

Das Land hinter den Nebeln - Buch der Seelen 02

Titel: Das Land hinter den Nebeln - Buch der Seelen 02 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Kendall
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Fackel.
    »Gibt man dir zu essen?«
    »Ja, und der Eimer wird zweimal am Tag geleert, und es gibt frisches Wasser. Wir sind nicht schlecht behandelt worden. Aber in dem anderen Raum…«
    »Denk nicht daran. Wer ist der Mann, der bei Lord Robert ist?«
    »Ein Stallknecht. Er hat einen Soldaten der Wilden geschlagen.«
    »Und dieser Mann, der hier liegt? Verschläft er immer alles, so wie jetzt?«
    »Er schläft nicht«, sagte David Arlen. »Er ist bewusstlos, und das ist er jetzt schon seit einem Tag, obwohl er nicht verletzt ist. Er wurde hier bei vollem Bewusstsein hergebracht, und dann ist er plötzlich einfach umgefallen. Der Stallknecht ist ein Dummkopf vom Lande. Er hat ihm irgendeinen Namen gegeben, aber ich kann mich nicht daran erinnern. Die Instrumente in diesem anderen Raum…«
    »Welchen Namen?« Es war mir gleich, wie der Bewusstlose hieß, aber der junge Kurier fing an, heftig zu zittern. Ich musste ihn am Sprechen halten, und wenn es nur war, um ihn abzulenken. »Wie ist sein Name?«
    »Ich erinnere mich nicht!«
    »Versuch es«, sagte ich sanft. Denke an andere.
    »Es war kein Name, sondern ein Wort. Nicht einmal ein richtiges Wort.«
    »Was war es?«
    Er sagte: »Hisaf.«

30
    Anfangs dachte ich, ich hätte mich verhört, ich musste mich verhört haben. Dümmlich fragte ich: »Oh… oh… was?«
    »Hisaf«, wiederholte der Kurier. »Oh, was spielt es für eine Rolle? Wir werden alle unter schrecklichen Schmerzen sterben! Ich habe gehört, dass sie…«
    Aber ich hörte ihm schon nicht mehr zu, kümmerte mich nicht mehr um die Angst des Kuriers. Ich legte eine Hand grob auf die Schulter des Mannes und schüttelte ihn. Er wachte nicht auf. Ich schüttelte ihn fester. Nichts.
    Ich rollte ihn auf den Rücken. Jeder Muskel war schlaff, sein Körper nur ein Gewicht, das keinen Widerstand leistete, seine Augen geschlossen. Er hätte sich in der Versenkung eines Hisafs befinden können, aber er konnte genauso gut bewusstlos sein oder tot. Im trüben Licht der flackernden Fackel auf dem Gang konnte ich seine Züge nicht deutlich erkennen. Mit meiner einen heilen Hand nahm ich ihn beim linken Bein und hievte ihn ungeschickt so weit ins Licht, wie seine Ketten und meine Kraft es zuließen.
    »He!«, rief der Kurier. »Was machst du da?«
    Das Licht war immer noch nicht gut, aber es reichte. Als ich die Augenlider des Mannes zurückzog, waren seine starren Augen grün. Und sein Gesicht war das meine.
    Nein. Es war nicht möglich.
    Der Mann war sauber rasiert, von den Ein-Tages-Stoppeln abgesehen, während ich wegen der Wochen in der Wildnis einen wilden Bart hatte. Ich hatte dünnere Wangen, und mein Haar und meine Augen waren braun wie bei meiner Mutter. Aber das Gesicht dieses Mannes war eine ältere Ausgabe dessen, was ich sah, wenn ich in den Spiegel blickte, so ich denn einen Spiegel gehabt hätte, und die tiefe Bewusstlosigkeit, die ihn so plötzlich überkommen hatte, konnte durchaus die Versenkung eines Hisafs sein. Schaute ich meinem Vater ins Gesicht?
    Nein. Nicht möglich.
    Aber es waren viele Dinge geschehen, die nicht möglich schienen, und nichts davon war ein Zufall. Wenn das wirklich mein Vater war, dann war er aus irgendeinem Grund hergekommen oder hierhergebracht worden. Weshalb?
    Der Kurier sagte: »Kennst du ihn?«
    Ich blickte in das bewusstlose Gesicht neben mir. Dies war der Mann, der meine Mutter und mich zurückgelassen hatte. Der sie verlassen hatte, sodass sie jener Mann hatte nehmen können, der ihr meine Schwester angehängt hatte. Der indirekt für den Tod meiner Mutter verantwortlich war, und unmittelbar für meine elenden Kindheitsjahre, die ich bei Hartah und Tante Jo verbracht hatte. Dieser Mann, der sogar in diesem Augenblick vermutlich auf dem Pfad der Seelen wandelte, war in irgendeine schreckliche Sache im Land der Toten verwickelt.
    Der Kurier wiederholte: »Kennst du diesen Mann?«
    Im Gang flackerte die Fackel ein letztes Mal auf und ging dann aus, nachdem ihr Kieferpech aufgebraucht war. »Nein«, sagte ich in die absolute Finsternis, ohne mich auch nur zu bemühen, die Bitterkeit aus meiner Stimme fernzuhalten. »Ich kenne ihn überhaupt nicht.«
    Es war Abend gewesen, als man mich in den Kerker gebracht hatte. Die ganze Nacht lang tat sich nichts. In der Dunkelheit konnten meine nassen Kleider nicht trocknen, aber sie wurden langsam weniger feucht, rochen nach Wolle und Schweiß. Ich konnte nicht schlafen, aber die anderen schnarchten gleichmäßig, selbst–

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