Das Land zwischen den Meeren
immer einen Grund zum Feiern.«
Dorothea nahm eine Scheibe weißes Brot und strich Butter und Orangenmarmelade darauf. »Ich habe zwar lange geschlafen, aber ich fühle mich trotzdem wie zerschlagen, Señora Miller.«
J ohanna Miller wandte sich ihrer Portion Rührei mit Spec k zu und zögerte kurz. »Ich habe leider eine unerfreuliche Nachricht für Sie. Gestern bat ich meinen Neffen, der hier in der Nachbarschaft wohnt, zu Jensen zu fahren, sich als Ihr Cousin auszugeben und Ihre Papiere einzufordern. Und wissen Sie, was dieser Lügenbold behauptete? Sie hätten ohne Angabe von Gründen das Arbeitsverhältnis vorzeitig aufgelöst, und er wisse nicht, wo Sie sich aufhalten. Im Übrigen seien Sie selbstverständlich im Besitz aller persönlichen Dokumente.«
Dorothea blieb das Brot im Hals stecken. Sie würgte, schluckte und verspürte unbändige Wut. »Das habe ich befürchtet. Aber so ist er, der edle Hamburger Kaufmann Erik Jensen. Wenigstens kennt er meinen derzeitigen Aufenthaltsort nicht. Aber ich danke Ihnen für alles, was Sie bisher für mich getan haben. Ich weiß gar nicht, wie ich das wieder gutmachen soll.«
»Was reden Sie da, Kindchen? Es macht mir Freude, Sie als Gast in meinem Haus zu haben. Und außerdem – wir Frauen müssen doch zusammenhalten.«
Nach dem Frühstück zog sich Dorothea in ihr Zimmer zurück. Sie setzte sich an den Schreibtisch und blickte aus dem Fenster in Señora Millers Garten, dessen üppige Blütenpracht aus Bougainvillea, Rosen und Hibiskussträuchern die Hand eines geschickten Gärtners verriet. So müde und mutlos hatte sie sich schon lange nicht mehr gefühlt. Ohne Papiere konnte sie sich nirgends als Hauslehrerin bewerben, und sie würde auch keine Aufenthaltsverlängerung bekommen. Außerdem war zu befürchten, dass Jensen sie fände, wenn sie eine neue Arbeit annähme. Schließlich kannte hier jeder jeden. Sie musste San José schnellstens verlassen. Aber wohin? Nur ein Wunder konnte sie noch retten.
Ihre Finger tasteten nach dem Granatmedaillon, und das Herz wurde ihr schwer. Sie dachte an Alexander, an den Tag, als er ihr das Schmuckstück geschenkt hatte, und an den Moment, als sie gemerkt hatte, dass sie vermutlich schwanger geworden war. Diese Erkenntnis war ihr im Arbeitszimmer von Pfarrer Lamprecht gekommen. Und der Pfarrer hatte damals etwas Bedeutsames erwähnt. Mit einem Mal hatte Dorothea die Szene wieder deutlich vor Augen, fühlte ihr Herz schneller schlagen. Denn der Geistliche hatte von seinem Bruder erzählt, der in Costa Rica lebte. Plötzlich verspürte Dorothea neuen Lebensmut.
Viel zu lange hatte sie sich selbst bemitleidet, sich als Opfer von Jensens Launen gesehen. Nun war es an der Zeit, das Schicksal wieder in die eigenen Hände zu nehmen. Es musste sich doch herausfinden lassen, in welcher Gegend ein deutscher Pfarrer namens Lamprecht tätig war. Und dann wollte sie dem Geistlichen schreiben, dass sie aus Köln stamme, wo sein Bruder sie getauft hatte, und dringend seinen Rat brauche.
Einige Tage später stand Dorothea vor einem schmalen hellblauen Holzhaus. Es stand in einem Örtchen, etwa eine Stunde von ihrem neuen Zuhause entfernt, an der Straße zwischen San José und Alajuela. Ein geschmiedetes Kreuz prangte auf dem Dachfirst. Alfonso, der sie zu ihrem Ziel gefahren hatte, machte ihr ein Zeichen, er werde in der Kutsche auf sie warten. Als die Haustür von innen geöffnet wurde, glaubte sie, ihrem früheren Kölner Pfarrer gegenüberzustehen. Nur um einige Jahre verjüngt. Die Ähnlichkeit zwischen den beiden Brüdern war verblüffend.
»Sie müssen Fräulein Fassbender sein. Bienvenida. Bitte, treten Sie ein!«
Pfarrer Jakob Lamprecht schüttelte Dorothea die Hand und führte sie in einen weiß gekalkten Raum, in dem lediglich ein Schreibtisch mit einem Kruzifix und zwei Stühle standen. »Mein Meditationsraum«, erklärte er schmunzelnd, denn Dorotheas aufmerksamer Blick war ihm nicht entgangen. »Hier werden die Gedanken durch keinerlei Äußerlichkeiten abgelenkt.«
Dorothea setzte sich ganz nach vorn auf die Stuhlkante und hatte Herzklopfen, obwohl sie seit Tagen immer wieder im Geist durchgegangen war, mit welchen Worten sie dem Pfarrer ihr Anliegen erklären wollte.
»Ihr Brief hat mich neugierig gemacht«, begann Jakob Lamprecht das Gespräch, und Dorothea stellte fest, dass er sogar denselben singenden rheinischen Tonfall hatte wie sein älterer Bruder. »Ich freue mich, endlich einmal jemanden aus meiner Heimatstadt
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