Das Land zwischen den Meeren
presste die Fäuste in die schmerzenden Seiten. Sie bekam kaum noch Luft, zwang sich, gleichmäßig zu atmen, fühlte das Holpern der Räder unter der engen Holzbank. Mit geschlossenen Augen dankte sie dem Himmel, der ihr den jungen Uhrmacher als Retter geschickt hatte.
»Wo soll ich Sie denn absetzen, Fräulein Fassbender? Übrigens … Sie können ruhig Urs zu mir sagen.«
Zu ihrer Erleichterung stellte Dorothea fest, dass sie die Stadt bereits hinter sich gelassen hatten und auf einem der Wege zu den Zuckerrohrplantagen waren. Niemand war ihnen gefolgt. »Ich möchte zur Hacienda Bella Vista. Genauer gesagt, zu Señora Johanna Miller.«
»Das trifft sich gut – ich fahre unmittelbar an ihrem Haus vorbei. Und wenn Sie demnächst wieder in die Stadt wollen, sagen Sie mir vorher Bescheid. Ich nehme Sie jederzeit gern mit. Schließlich hat man nicht alle Tage eine so reizende Begleitung. Darf ich fragen, wie Sie mit Vornamen heißen?«
»Dieses verkommene Subjekt! Das hätte ich nicht von ihm gedacht … Ich hoffe, er spürt Ihren Fußtritt noch recht lange.« Johanna Miller rührte in der Teetasse, und ihre Bernsteinaugen sprühten Funken. Vor Empörung vergaß sie sogar das Trinken, während sie weitere heftige Verwünschungen ausstieß. Als sie ihre Schimpftirade beendet hatte, wurde sie ruhiger, lächelte Dorothea beruhigend zu. »Alfonso wird morgen den Koffer bei Ihrer Wirtin abholen. Danach sehen wir weiter. Aber jetzt ruhen Sie sich erst einmal aus.«
Dorotheas Arm zitterte, als sie die Tasse zum Mund führte. Sie versuchte zu verdrängen, was hätte geschehen können, wenn sie nicht rechtzeitig aus Jensens Umklammerung hätte fliehen können. Schauer liefen ihr über den Rücken, sie fröstelte. »Was glauben Sie, Señora Miller – wird er nach mir suchen?«
»Ich weiß nicht, was ihm noch alles zuzutrauen ist. Gerade deswegen ist es wichtig, dass Sie zur Polizei gehen und ihn anzeigen. Wegen Körperverletzung und versuchter Vergewaltigung.«
Dorothea fuhr sich mit der Hand über die schmerzende Stelle am Schulterblatt, wo Jensen sie mit dem Besenstiel geschlagen hatte. Tränen traten ihr in die Augen. Dann lachte sie bitter auf. »Das brauche ich erst gar nicht zu versuchen. Sie kennen ihn nicht, Señora Miller. Er würde alles bestreiten, und niemand würde mir glauben. Zeugen gibt es nicht, und meine wunde Schulter möchte ich den Polizisten nicht präsentieren. Außerdem … Jensen hat noch meine Papiere. Ich kann mich nicht ausweisen.«
»Dieses verkommene Subjekt!«, wiederholte Johanna Miller und schob sich ein Stück Current Bread in den Mund, kaute gedankenverloren.
»Meine Aufenthaltsgenehmigung läuft in fünf Monaten ab. Wie soll ich ohne meine Papiere überhaupt eine Verlängerung bekommen?« Bei dem Gedanken, man könne sie ausweisen und nach Deutschland zurückschicken, schluchzte Dorothea laut auf. Dann wäre alles, was sie auf sich genommen hatte, umsonst gewesen. Sie hätte umsonst bei Jensen ausgeharrt und sich mehr als ein Jahr lang ausnutzen lassen. Stark und tapfer hatte sie sein wollen, für Alexander und auch für das Kind, das sie verloren hatte. Und um vor sich selbst geradestehen zu können. Doch nun war sie kläglich gescheitert. An der Willkür eines eitlen, triebhaften Kaufmanns. Eine Illegale in einem Land, in dem es keine Zukunft mehr gab. Sie hielt sich die Hände vor die Augen und konnte den Tränenfluss nicht länger zurückhalten.
»Aber Kindchen, so beruhigen Sie sich doch! Morgen sieht die Welt schon wieder anders aus. Ich lasse mir wegen der Papiere etwas einfallen. Wir werden eine Lösung finden, ganz bestimmt.« Tröstend legte Johanna Miller eine Hand auf Dorotheas Arm. Dann klingelte sie nach dem Dienstmädchen. Eine hübsche Zwanzigjährige mit hüftlangen Zöpfen, deren dunkle Haut und hohe Wangenknochen die indianischen Vorfahren verrieten, brachte frischen Tee.
»Juana, richte bitte das Gästezimmer für Señorita Fassbender her und sorg dafür, dass sie ein Bad nehmen kann. Sie wohnt ab sofort bei uns.«
Johanna Miller legte die Zeitung beiseite, als Dorothea am Frühstückstisch Platz nahm, und nickte beifällig. »So gefallen Sie mir schon viel besser. Keine Sorgenfalten mehr auf der Stirn. Ihr Gesicht hat wieder Farbe bekommen. Ich hoffe, trotz der Nachbarn, die bis tief in die Nacht gesungen und getanzt haben, konnten Sie gut schlafen. Aber so sind die Ticos nun einmal. Gleichgültig, ob Taufe, Verlobung, Hochzeit oder Beerdigung, sie finden
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