Das Land zwischen den Meeren
werden nichts verraten? Ich meine, weil ich doch letzten Donnerstag meine Hausaufgaben vergessen habe.«
Dorothea zwinkerte ihm zu und legte den Finger an die Lippen. »Kein Sterbenswörtchen.«
»Willkommen in unserer bescheidenen Hütte, Fräulein Fassbender!«
Karl Reimann trat auf Dorothea zu und schüttelte ihr kräftig die Hand. Seine Handinnenflächen waren rau und schwielig. Doch er wirkte weitaus gesünder und zufriedener als noch vor einem guten Jahr während der Überfahrt. Seine Gesichtsfarbe zeigte dieselbe zarte Bräune, die Dorothea schon an seinen Söhnen aufgefallen war und die vom Aufenthalt im Freien unter tropischer Sonne herrührte. Seine Frau trocknete sich eilig die Hände an der Schürze ab und begrüßte Dorothea nicht minder herzlich.
»Bienvenida, wie man hierzulande sagt. Kommen Sie, setzen Sie sich! Ich habe einen Marmorkuchen gebacken, ganz frisch. Ist das nicht wunderbar? In Costa Rica gibt es alle Zutaten für unseren Lieblingskuchen aus Deutschland.«
Die Familie mit den vier Kindern setzte sich an den Tisch. Alles war viel zu klein und zu eng in der Hütte, in der die schmalen Betten ähnlich doppelstöckig aufgestellt waren wie seinerzeit auf dem Schiff. Eine Truhe aus Weidengeflecht diente zur Aufbewahrung der Kleidung, auf einem Holzregal standen Töpfe und Geschirr. Erinnerungen an die fünfmonatige Überfahrt wurden ausgetauscht. Dann berichtete Karl Reimann vom mühsamen Neuanfang und wie die riesigen Dschungelbäume in monatelanger Arbeit mit Beilen und Sägen gefällt worden waren und dass das Holz später für den Bau von Wohnhäusern, einer Schule und einer Kirche verwendet werden sollte. Die dicken Baumwurzeln mussten mühsam und mit viel Muskelkraft ausgegraben, der Urwaldboden gepflügt und für die Aussaat vorbereitet werden. Erst im kommenden Jahr würde man hoffentlich die erste Ernte einfahren, zwei Jahre nach Ankunft in der neuen Heimat.
Else Reimann berichtete von der Hilfsbereitschaft und vom Zusammenhalt der Siedler, deren Zahl mittlerweile auf fünfundvierzig angewachsen war. Demnächst wollte sich die Familie eine Kuh anschaffen. Dafür mussten sie zwar zusätzlich Geld aufnehmen, aber dann hätten die Kinder jeden Tag frische Milch und könnten gesund heranwachsen. Das Leben als Bauern in Costa Rica sei noch härter als in Deutschland. Aber sie alle verspürten bei dem immerwährenden Frühling neue Kraft. »Dieses Land ist so fruchtbar. Wir haben genau die richtige Menge an Sonne und Regen. Wer hier fleißig ist, der wird es auch schaffen. Bisher haben wir es nicht bereut, dass wir aus Deutschland fortgezogen sind. Außerdem« – mit verträumtem Lächeln deutete sie auf ihren Bauch, der sich mächtig unter der Schürze wölbte – »sind wir bald zu siebt. Das sichere Vorzeichen für eine glückliche Zukunft.«
Dorothea spürte die Zuversicht und Heiterkeit hinter diesen Worten, fühlte sich wohl im Kreis der Familie und in dieser Hütte, die trotz der kargen Ausstattung Behaglichkeit ausstrahlte. Als die Zwillinge Richard und Roswitha ihr zum Abschied eine bunte Feder und eine getrocknete Orchideenblüte schenkten, umarmte sie die beiden herzlich. Sie kehrte zurück in ihren Verschlag, den sie liebte, weil er ihr Zuhause und ihre Zufluchtsstätte war. In ihren Ohren klangen die Stimmen und das Lachen der Kinder nach. Und plötzlich kam sie sich einsam vor.
Karl Reimann hatte ihr angeboten, sie in die Stadt mitzunehmen. Die Siedlergemeinschaft hatte ihm den Auftrag erteilt, eine neue Axt und zwei Spaten zu besorgen, und Dorothea wollte Nähgarn und einen Spitzenkragen kaufen. Damit konnte sie das Aussehen ihres Kleides verändern, ohne sich gleich ein neues zulegen zu müssen. Das Pferd, das den Karren über den staubigen, holprigen Weg inmitten von Zuckerrohrfeldern zog, war ein gutmütiges altes Tier. Immer wieder versuchte Herr Reimann, es zum Trab zu bewegen. Doch die Stute blieb bei ihrer eigenen Geschwindigkeit und ließ sich weder durch Schnalzen noch durch die verschiedensten Zurufe aus der Ruhe bringen. Karl Reimann lachte und hielt die Zügel locker in der Hand.
»Zum Kutscher bin ich offenbar nicht geboren. Aber Sie werden’s noch erleben – auf dem Nachhauseweg, wenn’s in den Stall zurück geht, kennt Amanda kein Halten mehr.«
Alajuela lag an den unteren Berghängen des Vulkans Poás und war die verkleinerte Ausgabe von San José, mit denselben niedrigen, farbig gestrichenen Holzhäusern sowie schlecht ausgebauten Straßen. Auch
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