Das Land zwischen den Meeren
Ich hoffe, das ändert sich bald. Aber wie nur? Ich bin eine Illegale, die unter dem Schutz der Kirche deutsche Schüler unterrichten darf. Eine Frau, die nicht auffallen, sich nichts zuschulden kommen lassen darf, damit sie nicht ausgewiesen wird. Eigentlich möchte ich aber gar nicht mehr zurück nach Deutschland. Eine innere Stimme sagt mir, dass meine Zukunft hier liegt. Wenn ich doch nur meine Dokumente zurückhätte …
Dort, wo zurzeit noch behelfsmäßige Hütten stehen und wo demnächst die neue Siedlung entstehen soll, wucherte vor einem Jahr noch Urwald. Der Unterricht findet in einer Scheune statt, in der einmal Getreide lagern wird. Dort gibt es auch einen Andachtsraum. So müssen die Siedler nicht jeden Sonntag den langen Weg zur Kirche in die Stadt auf sich nehmen. Als ich zum ersten Mal zum Unterricht kam, traf ich einige der Kinder wieder, die mit uns auf der Kaiser Ferdinand waren. Die Überraschung war groß. Die Zwillinge Richard und Roswitha sind eigentlich noch zu jung für die Schule, aber zu Hause könnte sich keiner um sie kümmern, weil alle von morgens bis abends auf den Feldern und in den Hütten schaffen müssen. Erinnerst Du Dich noch an Peter und Paul Kampmann? Die Jungen sind groß geworden, haben kräftige Schultern und Arme bekommen. Aber auch ernstere Gesichter. Vermutlich leiden sie noch immer unter dem Tod des Vaters.
Du musst mir unbedingt mehr über den Arzt aus Chile schreiben. Wirst Du seinen Antrag annehmen? Ich weiß noch, wie ich auf Wolken schwebte, als Alexander mich fragte, ob ich seine Frau werden will. Es heißt ja, die Zeit heilt alle Wunden. Doch es schmerzt immer noch, wenn ich an ihn denke.
Nun muss ich mich aber beeilen. Ich will Pfarrer Lamprecht eine Liste mit Schulbüchern aufschreiben, die aus Deutschland geliefert werden sollen. Das wird Monate dauern. Johanna Miller hat uns einen Stapel leerer Hefte geschenkt. So können die Kinder wenigstens rechnen, schreiben und zeichnen. Ich drücke Dich fest an mein Herz, liebste Elisabeth, und wünsche Dir für das neue Jahr Gesundheit, Glück und Erfolg. Sei herzlich gegrüßt von Deiner Dorothea, die Dich oftmals vermisst.
»Nein, ich will kein Spanisch lernen, Fräulein Fassbender. Bei uns zu Hause sprechen alle Deutsch. Im Nachbarort leben Schweizer, die sprechen auch so ähnlich wie Deutsch. Und wenn ich meinen Großeltern nach Koblenz schreibe, verstehen die Spanisch doch gar nicht.« Klara Meier zog eine Schnute, vertiefte sich betont eifrig in ihr Schulheft und kritzelte darin herum. Rasch war Dorothea bei ihr und deutete mahnend mit dem Finger auf das Heft.
»Klara, du weißt, Papier ist teuer. Und derzeit können wir uns keine neuen Hefte leisten. Deswegen haben wir vereinbart, dass jeder Schüler gut auf sein Heft achtgibt und nur seine Hausaufgaben hineinschreibt.«
Mürrisch legte Klara den Stift zur Seite. »Wenn’s denn unbedingt sein muss … Aber Spanisch lerne ich trotzdem nicht«, beharrte sie trotzig.
»Ihr habt gehört, was Klara gesagt hat. Was meint ihr anderen dazu?«
Rufus Reimann hob den Finger, und Dorothea nickte ihm zu. »Also, ich finde es wichtig, dass wir auch Spanisch lernen. Weil wir uns doch mit den Leuten in diesem Land verständigen müssen. Wenn man nach dem Weg fragen muss oder wenn man einen Ochsen für den Pflug braucht. Dann will man doch kein Schaf verkauft bekommen. Oder wenn jemand ein zusätzliches Stück Ackerland pachtet. Man muss genau wissen, was im Vertrag steht, sonst ist man ganz unverhofft Besitzer einer kahlen Felseninsel im Golf von Santa Elena.«
Unwillkürlich musste Dorothea lachen. Rufus war ein aufgeweckter Junge, der blitzschnell kombinieren konnte und oft die drolligsten Erklärungen anbrachte. »Eure Hausaufgabe für morgen lautet: Jeder zählt nach, wie viele Worte er auf Spanisch sprechen kann. Und jetzt dürft ihr nach Hause gehen.«
Wie auf ein Kommando standen die Kinder von ihren Sitzen auf. Hastig packten sie ihre Schulsachen zusammen und gingen der Reihe nach und gemäßigten Schrittes an Dorothea vorbei zur Tür hinaus. Rufus kam noch einmal zurück und scharrte verlegen mit den Füßen.
»Ich … ähm … mir fällt gerade etwas ein. Meine Mutter hat mir ein Briefchen an Sie mitgegeben, aber das muss ich wohl verloren haben, als ich die Hühner gefüttert habe. Jedenfalls laden meine Eltern Sie ein, uns am nächsten Sonntag nach der Andacht zu besuchen.«
Dorothea war freudig überrascht. »Ja, ich komme sehr gern.«
»Und … Sie
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