Das Land zwischen den Meeren
Jahren den Kontakt zu beiden abgebrochen, nachdem der Bruder nach dem Tod seiner Frau vom Hühnerzüchter zuerst zum Tagelöhner und dann zum Säufer geworden war. Und sein arbeitsscheuer Neffe Gerado wegen diverser Schlägereien und Einbrüche im Gefängnis gesessen hatte. Diese Subjekte brauchten ihm nie wieder unter die Augen zu treten. Sie waren eine Schande für die gesamte Familie.
Für einen Moment schöpfte Pedro Hoffnung, als er daran dachte, Dorothea Fassbender ein … Angebot zu machen. Ein Häuschen an der Küste, Kleider, Schmuck, eine lebenslängliche Apanage, sofern sie auf Antonio verzichtete. Jede Frau war eitel und bestechlich. Das hatte ihn das Leben gelehrt. Trotzdem schien diese Señorita irgendwie anders zu sein. Hätte sie sich sonst etwas so Geringfügiges wie Schulhefte und Schreibfedern als Dankeschön für die Rettung seines Sohnes gewünscht? Überdies wäre Antonio starrsinnig genug, tatsächlich keine andere zu heiraten. Was sollte er nur tun? Hatte er überhaupt eine Wahl?
Pedro leerte sein Glas, kämpfte einen inneren Kampf. Nähme er also diese blasse, mittellose junge Deutsche in die Familie auf, dann könnte er zumindest auf Enkel hoffen, die eines Tages fortsetzen würden, was er selbst mit Mühe aufgebaut hatte. Immerhin hatte Dorothea Fassbender eine ansehnliche Figur, ein hübsches Gesicht und entstammte einem guten Elternhaus. Sie war sprachgewandt und hätte keine Mühe, sich in der costaricanischen Gesellschaft zu bewegen.
Er drückte die Zigarre aus und zog seinen Stock unter dem Sessel hervor. Seit drei Jahren brauchte er diese Krücke, seit einem Sturz vom Pferd. Er richtete sich auf, und dabei fiel sein Blick auf das Gemälde neben der Tür, das ihn im Alter von fünfunddreißig Jahren zeigte. Gut aussehend, kraftstrotzend, selbstbewusst. Als er den Grund und Boden erworben hatte, auf dem er nun schon seit Langem lebte. Ohne einen einzigen Piaster dafür gezahlt zu haben. Denn der damalige Bürgermeister von San José und spätere Präsident des Landes, Juan Mora Fernandéz, hatte denjenigen kostenfrei Land zur Verfügung gestellt, die sich bereit erklärten, darauf Kaffee anzubauen. Pedro hatte sofort gespürt, dass darin die Zukunft des Landes lag. Und seine persönliche Chance für künftigen Reichtum und Ruhm. Niemals in den vergangenen drei Jahrzehnten hatte er klein beigeben müssen. Doch nun hielt er zum ersten Mal keinen Trumpf mehr in der Hand. Er musste sich dem eigenen Sohn gegenüber geschlagen geben. Und das gefiel ihm ganz und gar nicht.
Nach Unterrichtsschluss konnte Dorothea nicht schnell genug nach Hause kommen. Jeden Tag rechnete sie mit einer Antwort von Elisabeth. Sie hatte der Freundin geschrieben, dass Antonio ihr nach nur vierwöchiger Bekanntschaft einen Heiratsantrag gemacht habe. Dass er gut aussehend und obendrein reich sei, sympathisch und kultiviert, dass sie aber trotzdem nicht sicher sei, ob sie ihr Herz jemals einem anderen Mann als dem verstorbenen Verlobten schenken könne. Andererseits empfand sie gerade Antonios Zurückhaltung als angenehm, denn er stellte keine bohrenden Fragen nach ihrer Vergangenheit. Er schien sie so zu lieben, wie sie war. Und nie hatte er versucht, ihr zu nahe zu kommen, sondern immer respektvolle Distanz gewahrt. Mit anderen Worten, er war ein Mann, wie ihn sich die meisten Frauen erträumten.
Trotzdem benötigte Dorothea dringend den Rat der Freu ndin. Sie hatte Antonio die Frage, ob sie seine Frau werden wolle, noch nicht beantwortet. Ihn um Bedenkzeit gebeten, da dieser Antrag doch viel zu schnell, zu überraschend für sie gekommen sei. Antonio hatte sie flehentlich aus seinen tiefblauen Augen angesehen, als hinge sein Leben von ihrer Antwort ab. »Ich verstehe«, hatte er schließlich leise und mit gesenktem Kopf gesagt und dabei rührend hilflos und verloren gewirkt. Dorothea war versucht gewesen, ihn tröstend in die Arme zu nehmen.
»Ich bitte Sie, Señorita Dorothea, entscheiden Sie sich rasch! Ich musste lange auf die richtige Frau warten. An dem Tag, als Sie mich vor dem umfallenden Karren retteten, wusste ich, dass Sie diejenige sind. Und deshalb lege ich Ihnen mein Herz zu Füßen.« Daraufhin hatte er sie nach Hause in ihre Siedlung gebracht und sich mit formvollendeter Verbeugung und Handkuss von ihr verabschiedet. Wie jedes Mal.
»Fräulein Fassbender, so warten Sie doch! Sie haben in der Schule etwas vergessen.«
Plötzlich hörte Dorothea die Stimme von Klara Meier hinter sich. »Hier,
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