Das Land zwischen den Meeren
Ihr Schultertuch! Ich dachte, Sie vermissen es bestimmt. Ach, was für ein schöner Stoff! Ganz leicht und weich. Sicher war es sehr teuer.«
»Danke, dass du es mir gebracht hast.« Dorothea nahm das Tuch entgegen und legte es sich um die Schultern. Antonio hatte wieder einmal Geschmack bewiesen. Als sie sich ihrem Zuhause näherte, sah sie schon von Weitem den Burschen, der in der Siedlung die Post verteilte, vor ihrer Hütte hocken. Der etwa fünfzehnjährige Junge hatte den bronzenen Teint und das tiefschwarze Haar der Indios. Darum beneidete Dorothea die Nachfahren der Ureinwohner. Mit ihrer hellen Haut und dem blonden Haar kam sie sich den Indigenas gegenüber farblos vor. Sie beschleunigte ihre Schritte. Endlich war eine Antwort der Freundin gekommen.
»Es tut mir leid, Señorita, aber heute habe ich leider keine Post für Sie.«
Mit Mühe verbarg sie ihre Enttäuschung vor dem Jungen. »Hast du eigens auf mich gewartet, um mir das mitzuteilen, Manuel?«
Der Junge sprang auf und grinste breit. »Habe ich, Señorita Fassbender. Aber nur, damit ich nicht wieder so schnell zu Hause bin. Da muss ich mich nämlich um meine drei kleineren Geschwister kümmern, und ich sag Ihnen, bei solchen Schreihälsen ist das überhaupt kein Spaß.«
Trotz ihrer Enttäuschung konnte Dorothea sich das Lachen nicht verkneifen. »Ich weiß. Schüler zu unterrichten ist manchmal auch kein Spaß. Doch meistens bereitet es mir großes Vergnügen Jetzt solltest du aber nach Hause gehen. Bevor deine Eltern dich suchen.«
Der junge Indio trollte sich.Dorothea holte ein Messer aus ihrer Hütte und pflückte eine Mango. Sie setzte sich auf ein Brett, das sie auf zwei dicke Steine gelegt hatte und das ihr als Bank diente, löste das Fruchtfleisch vom Stein und schnitt die Mango in Spalten. Spürte die erfrischende Süße auf der Zunge. Dachte nach. Grübelte. Zweifelte. Wie sollte ihr weiteres Leben aussehen? Wollte sie auf ewig in der Siedlerschule unterrichten, immer in der Angst, durch eine Unachtsamkeit aufzufallen und mit den Behörden in Konflikt zu geraten? Konnte Pfarrer Lamprecht sie weiterhin schützen, oder musste sie als Illegale irgendwann Costa Rica doch noch verlassen? Dieses warme, wunderschöne, fruchtbare Land, das sie jeden Tag aufs Neue zum Staunen brachte. Sie kämpfte gegen die Unruhe in ihrem Innern, zwang sich, nüchtern und sachlich die verschiedenen Möglichkeiten zu durchdenken. Mit der Hand strich sie sich über das Haar. Ihre Fingerspitzen berührten den Schildpattkamm, den Antonio ihr beim letzten Treffen mitgebracht hatte. Sie möge ihm die Freude bereiten, so hatte er gebeten, ihr eine Winzigkeit schenken zu dürfen.
Und mit einem Mal ließ sie es zu, einen Gedanken zu Ende zu führen, der sie wiederholt gestreift, den sie aber immer entschieden zurückgedrängt hatte. Denn sie hatte sehr wohl die Möglichkeit, einer rosigen Zukunft in diesem Land entgegenzusehen … Nämlich an der Seite des Mannes, der um ihre Hand angehalten hatte. Sie brauchte nur Antonios Antrag anzunehmen.
Allerdings … durfte sie einen Mann heiraten, der ihr zwar ein angenehmer Gesellschafter war, den sie aber nicht aus tiefstem Herzen liebte? Vielleicht würde sich die Liebe später noch einstellen. Nach der Hochzeit, wenn erst einmal Kinder da waren. Denn was wusste sie schon vom Leben? Sie hatte ja erst einmal geliebt. Aber … konnte ein Mensch auch ein zweites Mal lieben oder sogar noch häufiger?
Sie würde in den obersten gesellschaftlichen Kreisen verkehren, ein Leben ohne Geldsorgen führen. Dorothea wagte sich kaum auszumalen, wie viele Frauen sie um solche Privilegien beneiden würden. Auf der Stelle mit ihr würden tauschen wollen. Und dennoch zögerte sie, Ja zu sagen.
Ein Eichhörnchen hüpfte an der offen stehenden Tür vorbei. Die costaricanischen Exemplare waren größer als jene, die sie aus Köln kannte, mit grauweißem Rücken und rostbraunem Bauch. Dorothea nahm ein Stückchen Mango und legte es auf einen dicken Stein neben dem Eingang. Das Tier wartete, bis sie die Hütte betreten hatte, griff blitzschnell nach der Frucht und sprang in einen Bananenbaum.
Wäre doch nur endlich eine Antwort von Elisabeth gekommen! Die Freundin war selbstbewusst und klug. Auf ihre Meinung konnte Dorothea sich verlassen. Sie presste die Hände gegen die pochenden Schläfen, fühlte sich plötzlich ohnmächtig und matt. Möglicherweise war auch alles zu viel gewesen, was sie in den zurückliegenden zwei Jahren hatte
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