Das Land zwischen den Meeren
dieselbe Frau wie seinerzeit bei ihrer ersten Schwangerschaft. Die kräftige, hochgewachsene Frau erteilte ihr die Auskunft, die ihr Freudentränen in die Augen trieb. Es war geglückt. Sie war tatsächlich schwanger.
Dorothea schwebte auf Wolken. Sie empfand nicht die geringste Übelkeit, fühlte sich energiegeladen und unternehmungslustig. Antonio zeigte sich verliebt wie in den Wochen vor ihrer Ehe. Die Schwiegereltern gaben sich freundlicher und zugewandter als sonst, erkundigten sich wiederholt nach Dorotheas Befinden, diskutierten bei Tisch eifrig den Vornamen ihres künftigen Enkels. Antonio ließ keine Gelegenheit aus, Dorothea ins Theater auszuführen. Dort plauderte er in den Pausen im Foyer mit Freunden und alten Bekannten, sprühte vor Charme. Und doch wurde Dorothea den Verdacht nicht los, ihr Mann wolle sie mit ihrem immer runder werdenden Bauch ganz bewusst der Öffentlichkeit präsentieren.
Ein weiterer Wermutstropfen war die Tatsache, dass sie die geplante Reise an den Atlantik in absehbarer Zeit nicht unternehmen konnte. Sie wäre für jede Strecke mehr als zehn Tage auf einem Muli im Urwald unterwegs gewesen. Und sie wollte kein Risiko eingehen, weder für sich noch für das Kind. Ihrer ebenfalls schwangeren Freundin aber konnte sie eine Reise ebenso wenig zumuten. Also schrieben die beiden sich Briefe, manchmal sogar mehrere in der Woche. Auf diese Weise waren sie einander fast so nahe, wie wenn sie sich gesehen hätten.
Der Alltag auf der Hacienda Margarita verlief außer zu Erntezeiten ruhig und eintönig. Dorothea hätte sich manches Mal Gäste gewünscht, die für einige Tage verweilt und für Abwechslung gesorgt hätten. Aber Isabel strengte es zu sehr an, fremde Gesichter um sich zu haben. Sogar ihre Nichte Rosa, die in früheren Zeiten mit ihrer Kinderschar hin und wieder auf der Hacienda eingefallen war und für Schwung gesorgt hatte, kam nicht mehr. Sie spürte, dass ihre Tante eine derartige Aufregung nicht mehr verkraftet hätte.
Um der Monotonie zu entfliehen, unternahm Dorothea Ausflüge in die nähere Umgebung. Einmal besuchte sie die deutschen Siedlerfamilien, die mittlerweile Costa Rica als ihre Heimat betrachteten. Helene Kampmann hatte ein zweites Mal geheiratet, einen verwitweten Bäcker, der zwei kleine Kinder in die Ehe mitgebracht hatte. Ihre Tochter Lotte war zu einer jungen Frau herangereift, und Max Meier, ein inzwischen zweiundzwanzigjähriger Hüne, hatte sich mit einem bildhübschen Indiomädchen verlobt.
Ein weiterer Besuch galt Johanna Miller. Diese konnte Dorothea gar nicht genug für ihr Aussehen loben. »Sie sollten immer schwanger sein, Kindchen. Das steht Ihnen am besten.« Und dann tischte die Schweizerin Tee und Butterkekse auf und erzählte von einer Messerstecherei in einer Schenke in San José, bei der der Uhrmacher Urs Keller eingeschritten und selbst am Hals verletzt worden war. Außerdem von Mercedes Castro Ibarra, Dorotheas ehemaliger Vermieterin, die in eine Nervenheilanstalt eingeliefert worden war, nachdem man sie zufällig dabei beobachtet hatte, wie sie auf ihrem Grundstück herumgrub. Die Polizei wurde gerufen, und die Beamten fanden das Skelett eines Kleinkindes, das bestimmt schon länger als zwanzig Jahre in der Erde gelegen hatte. Plötzlich blitzten Funken in Johanna Millers Augen auf. »Stellen Sie sich vor, Alfonso, mein alter Nachbar, hat mir einen Heiratsantrag gemacht. Ich überlege sogar, ihn anzunehmen. Aber nur unter der Bedingung, dass ich in meinem Haus wohnen bleibe.«
Dorothea hörte gebannt zu und erinnerte sich an ihre Anfangszeit in diesem Land, an ihre Hoffnungen und Träume, aber auch an ihre Ängste. Hätte jemand ihre Geschichte als ein Märchen erzählt, dann wäre sie darin als Glücksprinzessin vorgekommen, die in einem Schloss lebte und ein Leben in Saus und Braus führte. Und alle anderen Frauen im Land wären vor Neid erblasst. Dorothea nahm sich vor, künftig die glücklichen Augenblicke besonders intensiv zu genießen und die glücklosen so schnell wie möglich zu vergessen.
Als im Februar die Kaffeesträucher erste Knospen bildeten, rief Dorothea nach dem Nachmittagstee ihre Tochter zu sich auf die Veranda. »Olivia, meine Süße, ich habe eine Überraschung für dich. Wir werden bald zu viert sein. Du wirst ein Geschwisterchen bekommen.«
Olivia hüpfte zu ihrer Mutter auf den Schoß, kuschelte sich an sie. »Aber ich will ein Schwesterchen haben. Jungen sind blöd. Sie ziehen Mädchen immer an den Zöpfen.
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