Das Land zwischen den Meeren
sie in den Augen der Schwiegereltern versagt hatte. Warum also sollte sie auf andere Rücksicht nehmen?
»Es steht so viel auf dem Spiel, Liebes. Die Zukunft unserer ganzen Familie. Wenn du bei mir bleibst, dann schaffe ich es bestimmt, mich zu ändern. Ich schwöre dir, ich werde dir immer treu sein und nie wieder in meinem Leben …«
Dorothea lächelte bitter und gequält. Von ihrem Verhalten hing also die Zukunft der Familie ab. Solche Worte hatte sie schon einmal gehört, als es darum ging, entweder einen widerwärtigen Apotheker zu ehelichen oder ihr Kind abtreiben zu lassen. Und nun lag es abermals an ihr, was aus ihren nächsten Angehörigen wurde. Es war die gleiche Situation wie damals, nur unter anderen Vorzeichen. Und wieder trug sie die Verantwortung für das Glück anderer. Warum immer nur sie?
»Dorothea, was ist mit dir?«
»Still, ich will nichts mehr hören! Ich muss nachdenken.« Mit geschlossen Augen saß sie auf der Bank, legte eine Hand an die Brust, wo sie das herzförmige Medaillon unter dem Stoff spürte. Sie hatte es am Tag ihrer unheilvollen Entdeckung wieder umgelegt. Dieser Talisman würde ihr die Kraft verleihen, das Richtige zu tun. Unvermittelt sprang sie auf und lief den Abhang hinunter.
»Was ist denn, Dorothea? So bleib doch! Wohin willst du?«
Die Worte, die sie in seine Richtung rief, klangen hämisch, und es störte sie nicht im Geringsten. »Ich muss noch etwas regeln. Es hat nichts mit dir zu tun!«
September 1855 bis September 1856
Meine allerliebste Dorothea! Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. So aufregend ist alles zurzeit. Ach, viel lieber wäre mir, wir könnten zusammen auf meiner Veranda sitzen, zuschauen, wie die Sonne im Meer versinkt, und miteinander ratschen. Wie schade, dass Du auf der Hacienda unabkömmlich bist. Du musst Deinen Besuch aber so schnell wie möglich nachholen. Trotzdem – ich kann nicht so lange mit der Neuigkeit warten. Du musst es sofort erfahren. Ich bin schwanger! Mir geht es blendend, und ich fühle mich so stark, als könnte ich Bäume ausreißen.
Nein, es ist nicht so, wie Du denkst. Du wirst keine Einladung zu einer Hochzeitsfeier bekommen. Ich werde Diego nämlich nicht heiraten. Er ist nach Chile gereist, weil sein jüngerer Bruder nach einem Jagdunfall gestorben ist und dessen Frau mit drei kleinen Kindern völlig verzweifelt. Der Bruder war ebenfalls Arzt, und nun will Diego sich um die Praxis kümmern und seiner Schwägerin zur Seite stehen. Er bat mich, mit ihm fortzuziehen. Doch mein Platz ist hier in Jaco. Wo der Blick bis zum Horizont reicht und nicht durch Berge verstellt wird, wie ich es von früher kenne. Wo ich das Meeresrauschen höre und das Salz auf den Lippen schmecke. Hier spüre ich die Freiheit, die ich brauche. Zum Dank für die Zeit, die wir miteinander verbracht haben, hat Diego mir sein Haus überlassen. Ich werde es zu einer Fremdenpension mit vier oder fünf Zimmern umbauen lassen und die Holzfassade in Meerblau streichen. Außerdem erhalte ich eine monatliche Apanage. Du weißt, Diego ist der großzügigste Mensch, dem ich je begegnet bin. Zusammen mit dem Geld, das von meiner kleinen Erbschaft noch übrig ist, muss ich mir keine Sorgen um mich und das Kind machen. Mein Leben wird sich grundlegend ändern, und ich freue mich auf die Herausforderung. Ich weiß nicht, wie lange Diego in Chile bleibt, ob er überhaupt zurückkommt. Sicher werde ich ihn manchmal vermissen. Vielleicht werde ich aber auch einen anderen Mann kennenlernen und mich so heftig verlieben, dass ich mich nie mehr von ihm trennen möchte. Wer weiß?
Ich hoffe, Ihr seid alle wohlauf dort oben auf Eurer Hacienda. Grüß Antonio von mir. Servus und ein dickes Busserl an meine süße kleine Patentochter, mit der ich beim nächsten Wiedersehen Palatschinken backen werde. Ich umarme Dich. Deine Elisabeth.
Dorothea ließ den Brief sinken. Konnte nur staunen, wie beherzt Elisabeth ihr Schicksal in die eigenen Hände nahm. Wie sie immer nur nach vorn blickte. Sich nicht um die Meinung anderer oder um Etikette scherte, sondern ihr Leben lebte. Dazu hätte ihr, Dorothea, der Mut gefehlt. Und nun würde die Freundin sogar allein ein Kind großziehen, ohne die schützende Hand eines Mannes … Doch war ihre eigene Situation wirklich so anders? Zwar hatte sie keine Geldsorgen, doch welche moralische Unterstützung erfuhr sie bei der Erziehung ihrer Tochter – und welche als Ehefrau? Aber dann ermahnte sie sich, den Kopf nicht hängen zu
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