Das Land zwischen den Meeren
Dorothea den zierlichen kleinen Mann mit dem grau melierten Kinnbart zu einem Spaziergang durch den Park ein. »Ich muss mich bei Ihnen bedanken, Doktor Medina Cardenas. Ich kann mich zwar kaum an die Geburt und an die Wochen danach erinnern. Aber nach allem, was mir erzählt wurde, weiß ich, dass ich Ihnen wohl mein Leben verdanke.«
»Nicht doch, werte Señora Ramirez. Unser Schicksal liegt allein in Gottes Hand, nicht in den Händen von uns Ärzten. Sie haben bewundernswert gekämpft. Sie sind eine starke Frau. Und Sie sehen heute fantastisch aus, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf.«
»Maamaaa, Livi kann klettern!«
Dorothea wandte sich um und sah Olivia, die einen der jungen Stallburschen dazu überredet hatte, eine ellenlange Leiter gegen den Stamm eines Korallenbaumes zu lehnen. Blitzschnell war sie die Sprossen hinaufgeklettert, streckte zuerst den rechten Arm und das rechte Bein in die Luft, dann den linken Arm und das linke Bein, schwankte dabei gefährlich hin und her.
Am liebsten wäre Dorothea ihrem Impuls gefolgt und wäre zu ihrer Tochter gelaufen, hätte sie womöglich eigenhändig von der Leiter geholt. Doch das hätte die eigensinnige Olivia erst recht gereizt, sich weitere tollkühne Streiche auszudenken. Dorothea zitterte vor Angst. »Olivia, komm herunter, das ist viel zu gefährlich! Und halt die Leiter gut fest, Vicente, damit das Kind nicht fällt!«
Als Olivia wieder festen Boden unter den Füßen hatte, atmete Dorothea erleichtert auf. »Meine Tochter ist ein richtiger Wildfang. Immerzu will sie zeigen, wie mutig sie ist. Und ich stehe derweil Todesängste aus.«
Der Doktor musste schmunzeln und zwirbelte an seinem Bart. »Ich glaube, an der Kleinen ist ein Junge verloren gegangen … Übrigens, Señora Ramirez, ich muss Ihnen noch etwas sagen. Die Geburt Ihres Sohnes war sehr kompliziert. Sie haben schwere innere Verletzungen erlitten. Und dann das Fieber im Wochenbett … Sie können wahrscheinlich keine Kinder mehr bekommen.«
Dorothea erstarrte, brauchte eine Weile, bis sie begriffen hatte. Dann war also alles vorbei. Sie würde nie wieder schwanger werden, nie wieder ein Neugeborenes in den Armen halten und seinen Geruch einatmen können. Aber auch nie wieder die schrecklichen Qualen einer Geburt erleben müssen. Welchen Grund also hatte sie, ihr Schicksal zu beklagen?
»Glücklicherweise haben Sie ja bereits zwei prachtvolle Kinder«, hörte sie den Arzt sagen.
Sie nickte und drückte seine Hand. »Danke, Doktor Medina Cardenas, danke für alles.«
Sie saß allein auf der Veranda und trank ihren Tee. Seltsam, Antonio war doch immer so pünktlich. Aber dann eilte er herbei, ergriff ihre Hände und presste sie an die Brust.
»Dorothea, Liebes, es gibt leider unerfreuliche Neuigkeiten. In Cartago sind mehrere Menschen an Cholera erkrankt. Deswegen kann in nächster Zeit niemand von uns die Hacienda verlassen. Sämtliche Bedienstete haben striktes Ausgehverbot. Und es darf auch kein Besuch von draußen kommen.«
Dorothea erschrak. Cholera und Pest – die beiden großen Seuchen, die Geißeln der Menschheit, gegen die kein Medikament half. Sie erinnerte sich, was sie in ihrer Schulzeit über die Cholera gehört und gelesen hatte, sah in Gedanken ausgezehrte Leiber und wirre Gesichter, roch Fäulnis und Verwesung, hörte Schmerzensschreie und Wehklagen, das Rumpeln der Karren, die mit unzähligen Toten beladen von klapperdürren Pferden durch die Straßen gezogen wurden. Sie zitterte am ganzen Leib, denn wenn dieses Übel Cartago heimsuchte, dann konnte es sich innerhalb weniger Tage bis nach San José ausbreiten. Und sie bedrohen, ihre Familie, den erst wenige Monate alten Sohn. »Das ist ja furchtbar. Wir schweben in höchster Gefahr.«
Antonio strich ihr beruhigend übers Haar. »Nicht, wenn sich alle an die Regeln halten und jeder an seinem Platz bleibt. Wir haben genug zu essen und zu trinken, die Vorräte reichen für mehrere Wochen. Ein englischer Arzt glaubt herausgefunden zu haben, dass die Seuche durch verunreinigtes Trinkwasser entsteht. Aber das ist keineswegs bewiesen. Übrigens habe ich erfahren, dass auch der Mann erkrankt ist, der mich erpresst.«
Dorothea schwieg, bestürzt und verwirrt. Schickte lange Gebete zum Himmel, dass niemand in ihrer Umgebung erkrankte und die Gefahr vorüberging.
Die Arbeit auf der Kaffeeplantage ging weiter wie gewohnt, dennoch herrschte eine gedrückte Stimmung. Niemand wusste, wie er sich selbst schützen sollte, jeder
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