Das Land zwischen den Meeren
über zeugend wie möglich zu sprechen.
»Du kannst mir nichts vormachen, Dorothea. Schließlich kenne ich dich lange genug. Ich glaube vielmehr, du verschweigst mir etwas.«
Dorothea schoss das Blut in den Kopf, sie spürte ihren Herzschlag bis in die pochenden Schläfen. Im ersten Moment dachte sie daran, sich eine Notlüge einfallen zu lassen. Gleichzeitig widerstrebte ihr eine Entgegnung, die nicht der Wahrheit entsprach. Auch wenn sie sich damit vor weiteren unliebsamen Diskussionen schützen würde.
Aber warum eigentlich sollte sie eine Tatsache verleugnen, die sie mit Freude und Stolz erfüllte? Dass sie nämlich guter Hoffnung war. Jeden Tag musste Alexander aus Berlin zurückkehren, und dann würden die Eltern ohnehin von den Hochzeitsplänen erfahren. Sie holte tief Luft. Beinahe trotzig schleuderte sie ihrer Mutter die Antwort entgegen. »Ich erwarte ein Kind.«
Sibylla Fassbender griff sich röchelnd an den Hals. Jegliche Farbe wich ihr aus dem Gesicht. Sie schien unfähig, sich zu rühren. Als sie irgendwann aus ihrer Starre erwachte, streckte sie zitternd eine Hand vor und tastete blind nach dem Weinglas. Das Glas fiel um, und die Flüssigkeit breitete sich auf der Tischdecke aus. Entgeistert starrte Sibylla auf den feuchten roten Fleck. »Nein. Das ist ganz und gar unmöglich … Du kannst doch nicht … kannst nicht …«
Ganz ruhig faltete Dorothea die Serviette zusammen, wunderte sich über sich selbst, weil es ihr plötzlich nicht schwerfiel, die Wahrheit unumwunden auszusprechen. »Ich war vorhin bei einer Hebamme. Sie hat es bestätigt.« Ein Gefühl von Mitleid regte sich in Dorothea, als sie sah, wie ihre Mutter völlig versteinert dasaß. Sie hätte sie gern getröstet – wenn sie einander vertrauter gewesen wären. Und dann fiel ihr der verhärmte Zug auf, der sich im Gesicht ihrer Mutter widerspiegelte, die feinen Falten um die fest aufeinandergepressten Lippen. So sah keine glückliche Frau aus. Aber vielleicht hatte ihre Mutter dieses Gefühl auch nie kennengelernt. Dorothea konnte sich jedenfalls nicht daran erinnern, sie jemals unbeschwert oder gar ausgelassen erlebt zu haben.
Unvermittelt erhob sich Sibylla. Zornig brach es aus ihr hervor. »Ich hatte gleich ein ungutes Gefühl … Von Anfang an war ich dagegen, dass du die unerzogenen Rotznasen dieses Gernegroß von Notar unterrichtest. Aber du musstest unbedingt deinen Kopf durchsetzen, wusstest ja besser, was für dich richtig ist. Und nun hat dieser Lüstling sich über dich hergemacht und dir ein Kind angehängt …«
»Aber Mutter, was denkst du nur? Notar Rodenkirchen ist der liebenswürdigste und ehrenwerteste Dienstherr, den ich mir vorstellen kann. Er liebt seine Frau und würde sie niemals betrügen.«
Sibylla schlug die Hände vors Gesicht. Schwer ließ sie sich auf den Stuhl zurücksinken, mit tränenfeuchten Augen blickte sie zur Decke auf. Allmählich hellte sich ihre Miene auf. »Nein, warte … jetzt verstehe ich. Es hat alles seine Richtigkeit. Muss ja irgendwie seine Richtigkeit haben … Ihr habt uns gestern nur auf die Folter spannen wollen. Du und der Herr Apotheker. Habt getan, als würdet ihr euch erst zum zweiten Mal begegnen.« Ihre Stimme wurde lebhaft. Mit aller Macht schien sie sich in etwas hineindenken zu wollen, das ihr bis dahin undenkbar vorgekommen war. »Dabei habt ihr euch längst heimlich getroffen und euch dabei ineinander verliebt. Warum bin ich nicht schon eher darauf gekommen? Und inzwischen erwarten wir ein Enkelkind … Nun ja, eigentlich ist es ungebührlich, wenn Brautleute schon vor der Eheschließung … also, wenn sie miteinander … so vertraulich umgehen. Aber in diesem besonderen Fall ist es natürlich etwas anderes …«
Dorothea fühlte, wie tiefe innere Ruhe sie erfasste. Ganz gleich, wie die Mutter die Wahrheit aufnähme, Alexander war an ihrer Seite, und er würde sie durch alle Widrigkeiten des Lebens lenken.
»Nein, Mutter, du verstehst nicht. Herr Lommertzheim hat nichts damit zu tun.«
Alle Erklärungen, die Sibylla Fassbender sich soeben mühsam zurechtgelegt hatte, wurden durch diese Antwort zunichte gemacht. Stockend suchte sie nach Worten. »Ja, aber wer dann? Du … du willst doch nicht etwa behaupten, du weißt überhaupt nicht, von wem du schwanger bist!«
»Ich erwarte ein Kind von dem Mann, den ich liebe. Und der mich gleichfalls liebt.«
Auf Sibyllas Wangen bildeten sich rötliche Flecken. Ihre Stimme wurde laut und schneidend, jedes ihrer Worte saß
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