Das Land zwischen den Meeren
– und errötete. Doch dann wurde sie plötzlich wütend. Wie konnte die Hebamme nur so reden? Endlich hatte sie einen Menschen gefunden, der sie so annahm, wie sie war: Alexander. Was also sollte sie sich vorzuwerfen haben? Dass sie sich einem Mann hingegeben hatte, den sie in Kürze heiraten wollte, den sie von ganzem Herzen liebte und von dem sie geliebt wurde? Was auch immer diese Tugendwächterin ihr vorhalten mochte, sie war sich keiner Verfehlung bewusst.
Energisch richtete sie sich auf und strich das Kleid glatt. In ihrer Antwort lag Trotz. »Ich bin verheiratet. Mein Mann und ich haben uns seit Beginn unserer Ehe ein Kind gewünscht.«
Die Hebamme sammelte einige Wäschestücke ein und stopfte sie in eine schief zusammengenagelte Holztruhe. »Nun, dann kann ich Sie und Ihren Gemahl beglückwünschen. Sie sind guter Hoffnung.«
Den Gedanken, Alexander auf der Stelle einen Brief zu schreiben, hatte Dorothea wieder verworfen. Nein, sie wollte dem Geliebten die freudige Nachricht persönlich mitteilen. Nach seiner Rückkehr. In seinem gemütlichen Studierstübchen unter dem Dach, in dem sie sich mittlerweile wie zu Hause fühlte. Sie würde das dunkelblaue Kleid mit der Taftschleife anziehen, das er an ihr so liebte. Und dann würde sie ihn ganz unschuldig bitten, nach dem Herzmedaillon zu suchen …
Ganz in ihre Gedanken an das bevorstehende Wiedersehen versunken, betrat Dorothea die elterliche Wohnung.
»Bist du es, Dorothea?«
Sibylla Fassbender trat aus ihrem Ankleidezimmer in den Flur und verschränkte vorwurfsvoll die Arme vor der Brust. »Pünktlichkeit ist für dich offenbar zu einem Fremdwort geworden. Du hast dich schon wieder verspätet. Soll das zur Gewohnheit werden?« Sie klappte den Deckel ihrer bernsteinverzierten Uhr auf, die sie an einer langen Goldkette um den Hals trug, und betrachtete kopfschüttelnd und mit zusammengekniffenen Augen das Ziffernblatt. Dann wechselte sie in einen Tonfall, der keine Widerrede duldete. »In spätestens fünf Minuten sitzt du am Tisch. Greta hat schon aufgedeckt. Ich habe nicht vor, deinetwegen meine Suppe kalt werden zu lassen.«
Dorothea eilte in ihr Zimmer, wusch sich die Hände und zog das kirschrote Samtkleid mit den aufgestickten Blüten und der Posamentenborte an, das sie selten und nur ungern trug. Ihre Mutter hatte das Kleid in einem Modejournal entdeckt und sich sofort dafür begeistert. Gleich am nächsten Tag hatte sie es bei der Schneiderin in Auftrag gegeben, damit die Tochter etwas zum Anziehen hatte, worin sie manierlich aussah und einen untadeligen Eindruck machte. Dorothea beschlich das Gefühl, sie tue gut daran, jegliche Missstimmung zu vermeiden und die Mutter sanft zu stimmen. Weil sie einen lauernden Ausdruck in ihren Augen bemerkt hatte, den sie nicht zu deuten vermochte.
»Kommt Vater heute später?« Dorothea wies auf den leeren Stuhl und auf das dritte, noch unbenutzte Gedeck.
»Dein Vater wurde zu einer Patientin gerufen. Er meinte, wir sollen mit dem Essen nicht auf ihn warten.«
Dorothea füllte sich eine halbe Tasse Hühnerbrühe auf, hoffte, der Geruch möge ihr keine neuerliche Übelkeit verursachen. Die Mutter beobachtete aus den Augenwinkeln, wie die Tochter, statt zu essen, lediglich in der Suppe rührte. Sibylla legte den Löffel so heftig zur Seite, dass er gegen den Tellerrand klirrte.
»Dorothea, in letzter Zeit stocherst du nur noch im Essen herum. Ein junges und gesundes Mädchen wie du müsste eigentlich einen gesegneten Appetit haben.«
Demonstrativ leerte Dorothea ihre Suppentasse. »Es ist alles in Ordnung. Ich fühle mich gut«, versuchte sie, die Mutter zu beruhigen. »Heute Mittag habe ich bei Rodenkirchens sogar eine zweite Portion Rotkraut gegessen.«
Bei dieser Antwort verzog sich Sibyllas Mund zu einem schmalen Strich. »Aha, dann scheint es dir bei anderen Leuten offensichtlich besser zu schmecken als bei uns zu Hause.«
»Das stimmt nicht, Mutter. Manchmal habe ich eben großen Hunger, und ein anderes Mal fühle ich mich schon nach wenigen Bissen gesättigt.«
Sibylla Fassbender ließ sich nicht so leicht überzeugen. »Das erklärt aber nicht, warum du auf einmal bleich wie der Kalk an der Wand bist und dich übergeben musst. Möglicherweise leidest du an einer seltenen Krankheit. Die hoffentlich nicht ansteckend ist … Ich werde mit Vater reden. Er soll dich umgehend untersuchen.«
»Aber nein, Mutter, mir fehlt nichts. Ich bin gesund. Kerngesund.« Dorothea versuchte, so entschlossen und
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