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Das Land zwischen den Meeren

Das Land zwischen den Meeren

Titel: Das Land zwischen den Meeren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Paredes
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wie ein Messerstich. »Wer ist es?«
    »Erinnerst du dich an den Abend, als wir zu dem Gesangsvortrag bei Graf und Gräfin Schenck zu Nideggen eingeladen waren? Wir warteten auf eine Droschke. Und dann sprach uns ein junger Mann auf der Straße an. Er …«
    »Doch nicht etwa … etwa dieser ungekämmte Schreiberling mit dem schmuddeligen Mantel und dem zerfransten Schal? Wie ein Vagabund ist er dahergekommen. An den hast du deine Tugend verschleudert? Nein, sag um Himmels willen, dass das nicht wahr ist!«
    Dorothea nickte wortlos. Sibylla Fassbender fasste sich an die Brust und röchelte.
    »Ein Hungerleider, einer, der niemals eine Familie ernähren kann … Und von solch einem dahergelaufenen Kerl lässt du dir den Kopf verdrehen? Du bringst Schimpf und Schande über unsere Familie. Niemand wird noch etwas mit uns zu tun haben wollen. Die Leute werden mit dem Finger auf uns zeigen und auf die andere Straßenseite wechseln, wenn sie uns in der Stadt begegnen. Vater wird seine Patienten verlieren. Wir werden am Hungertuch nagen.«
    Mit einem feinen Lächeln lehnte Dorothea sich auf ihrem Stuhl zurück. Sie fühlte sich unverwundbar und stark. »Wir werden heiraten. So schnell wie möglich. Alexander hat einen großen Auftrag bekommen. Er wird Geld verdienen, viel Geld, und er wird berühmt werden …« Etwas in dem Blick der Mutter hielt Dorothea davon ab, in diesem Augenblick auch noch von den Reiseplänen zu erzählen.
    »Niemals hätte ich gedacht, dass du uns so etwas antust. Nach allem, was ich für dich geopfert habe …« Sibylla Fassbender zuckte mit den Lidern und schluckte schwer. »Vater hatte eine anstrengende Woche. Wir dürfen ihm noch nichts sagen. Erst muss ich mir überlegen, wie ich es ihm beibringe. Geh auf dein Zimmer, Dorothea, geh! Ich will dich heute nicht mehr sehen. Wir reden morgen weiter.«

April 1848
    »Ihre Frau Mutter lässt Ihnen ausrichten, dass sie einen dringenden Termin bei der Schneiderin hat. Soll ich Ihnen ein Spiegelei mit Speck zum Frühstück machen, Fräulein Dorothea? Sie sind viel zu mager. Ihre Taille ist so schmal, da hat ein Mann ja gar nichts zum Anfassen.«
    Greta griff nach der Porzellankanne, die auf einem Stövchen leise vor sich hin dampfte, und schenkte sich ein. »Ich habe den Kakao heute mit einem Schuss Sahne und besonders viel Zucker zubereitet. So schmeckt er doch am besten.«
    »Vielen Dank, Greta. Aber nach Spiegelei ist mir nicht zumute. Da ist mir ein Marmeladenbrot lieber.«
    »Sie sind immer so freundlich zu mir, Fräulein Dorothea.« Das Dienstmädchen versteckte verlegen die Hände unter der Schürze und verschwand. Dorothea sah ihr hinterher, überlegte, ob Greta wohl gern bei Herrschaften arbeitete, bei denen die Dame des Hauses kaum freundliche Worte fand und der Hausherr sich aus allem heraushielt, was seine Gattin anordnete. Sie nahm sich eine Scheibe Weizenbrot und verstrich einen winzigen Löffel Quittenmus darauf. Sorgfältig zerteilte sie das Brot mit dem Messer in kleine Happen, war froh, diesmal beim Essen keine Übelkeit zu verspüren. Sie schnupperte an der Kakaotasse, verzog das Gesicht und horch te zur Tür. Als sie sich überzeugt hatte, dass in der Diele keine Schritte zu vernehmen waren, stand sie auf, eilte in den Wintergarten und goss den Inhalt der Tasse in einen Blumenkübel.
    Dann lehnte sie sich bequem auf ihrem Polsterstuhl zurück und kostete es aus, morgens einmal ungestört den eigenen Gedanken nachhängen zu können. Sie hatte es sofort geahnt – der Termin bei der Schneiderin war nur ein vorgeschobener Grund. Wahrscheinlich wollte die Mutter ihr nach dem gestrigen Geständnis aus dem Weg gehen und erst einmal Zeit gewinnen. Ob sie den Vater schon eingeweiht hatte, dass die Tochter demnächst heiraten werde und guter Hoffnung war?
    Dorothea schlug die Zeitung auf und blätterte durch die Seiten. Der umfangreichste Bericht galt den Arbeiten am Dom. Der Leiter der Dombauhütte meldete sich ausführlich zu Wort und verkündete, das Gotteshaus werde zweifellos bis zum Ende des Jahrhunderts vollendet sein und als Meisterwerk sakraler Architektur die Stadt Köln in aller Welt berühmt machen. Dorothea verspeiste die restlichen Stückchen Quittenbrot und kam zu den Nachrichten aus den übrigen Landesteilen. Wieder einmal war von einer nahenden Revolution die Rede, die schon bald ganz Deutschland erfassen werde. Von Menschen, die auf die Straße gingen und gegen ungerechte Steuergesetze rebellierten und eine spürbare

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