Das Land zwischen den Meeren
Seute Deern stand auf dem Achterdeck und stopfte sich seelenruhig seine Pfeife.
»Was stehen Sie da so herum? Wir wollen übersetzen!«, rief ein Mann dem Kapitän ungehalten zu. Doch dieser zündete erst einmal die Pfeife an, nahm einen tiefen Zug und blies feine Rauchschwaden in die Luft.
»Tscha, das täte ich auch gern.« Der Kapitän deutete auf zwei Matrosen, die ein Segel auf dem Vorschiff ausgebreitet hatten. »Aber das Großsegel ist gerissen. Auf einer Länge von drei Ellen. Das muss erst repariert werden. Und nach uns läuft kein Schiff mehr aus.«
»Was soll das heißen?«, fragte ungeduldig eine rundliche blasse Frau, die einen rothaarigen kleinen Jungen an der Hand hielt, der vor sich hin grinste und fortwährend an den Fingernägeln kaute.
»Was das heißt, gute Frau? Für heute habe ich Feierabend.«
»Aber wie sollen wir dann nach Hamburg kommen?« Die Frau zog dem Jungen den Finger aus dem Mund und starrte den Kapitän feindselig an.
»Morgen um acht legen wir bei auflaufendem Wasser ab.«
Dorothea erschrak. Wo sollte sie die Nacht verbringen? Ein Zimmer in einer Pension würde zusätzliches Geld verschlingen. Geld, das sie doch so dringend für die Überfahrt brauchte. Ein junger Mann mit einem Geigenkasten unter dem Arm machte seinem Ärger Luft.
»Was ist mit uns? Sollen wir die Nacht vielleicht unter freiem Himmel verbringen?«
Der Kapitän hob ungerührt die Schultern. »Alle Passagiere können im Bahnhof übernachten. In den Wartesälen ist es warm und trocken. Es sei denn, jemand möchte sein Geld lieber in einem Gasthof in der Stadt lassen.«
Die Reisenden zeterten: »Eine Zumutung ist das!«, »Da können wir ja von Glück sagen, dass kein Winter herrscht und Eisschollen auf der Elbe herumschwimmen. Dann könnten wir hier wahrscheinlich tagelang versauern.«
Unter Protest- und Unmutsrufen machte die Gruppe kehrt und stapfte zum Bahnhof zurück. Nach kurzer Diskussion überließen die Männer den Frauen und Kindern den Wartesaal der ersten und zweiten Klasse, während sie selbst sich in den der dritten und vierten Klasse zurückzogen.
Der Wartesaal für die Frauen erinnerte an ein riesiges Wohnzimmer und wirkte weitaus gemütlicher, als die meisten erwartet hatten, mit getäfelten Wänden, mannshohen Kübelpflanzen und Zeichnungen unterschiedlichster Lokomotiven. Dorothea sank in einen weichen, grün bezogenen Sessel und fasste neuen Mut. Hier konnte sie sogar recht bequem und ohne zusätzliche Kosten die Nacht verbringen. Auch die übrigen Frauen beruhigten sich allmählich und fühlten sich in der behaglichen Umgebung mit ihrem Schicksal versöhnt.
»Ich hab solchen Hunger!«, krähte ein etwa vierjähriger Junge, rieb sich den Magen und machte Kulleraugen. Die Frauen lachten, und jede holte ihren Proviant hervor. Man tauschte Brot gegen Äpfel, Kuchen gegen Most, aß, trank und scherzte in gelöster Stimmung. Der Weg in die Zukunft begann trotz des unfreiwilligen Aufenthaltes doch ganz verheißungsvoll, stellte Dorothea fest und wertete dies als günstiges Zeichen. Sie rutschte tiefer in den Sessel, wickelte sich in ihre Schultertücher und schlief seelenruhig ein.
April 1848
Die Fahrt über die Elbe dauerte länger, als Dorothea erwartet hatte. Das Schiff segelte zunächst in nördlicher Richtung durch einen Kanal, dessen Ufer einzelne Bauerngehöfte und halb verfallene Mühlen säumten.
»Da drüben liegt Hamburg. Ich sehe schon den Kirchturm der Katharinenkirche!«, rief aufgeregt ein kleines Mädchen und schickte sich an, die steile Treppe zum Achterdeck hinaufzuklettern, wurde aber von einem Matrosen daran gehindert und zu seiner Mutter zurückgebracht. Dorothea reckte den Hals und erkannte am Horizont die Silhouette der großen Stadt.
Als das Schiff am Kai angelegt hatte und Dorothea ihren Fuß auf den mit Möwenkot beschmutzten Steg setzte, befiel sie eine eigenartige Unruhe. Die ersten Schritte in Richtung Freiheit waren zwar getan, aber sie war noch längst nicht am Ziel. Sie sehnte den Tag der endgültigen Abreise aus Hamburg herbei, hoffte inständig, dass nichts mehr dazwischenkam und den Aufbruch in ihr neues Leben verzögerte. Der Hafen war ein unüberschaubares Gewirr aus Masten und Takelage. Unzählige Schiffe aller Größen und Arten waren hier unterwegs oder lagen vor Anker. Segler mit bis zu vier Masten, Schaluppen, Kutter, Klipper, Lastkähne, Schuten. Moderne Dampfschiffe, wie sie auf Flüssen eingesetzt wurden, bliesen aus ihren Schornsteinen
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