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Das Land zwischen den Meeren

Das Land zwischen den Meeren

Titel: Das Land zwischen den Meeren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Paredes
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fahren. Auch an der übernächsten oder der darauffolgenden. Doch eine solche Schwäche gestand sie sich nicht zu. Sie wollte die Herausforderung annehmen, wollte sich selbst beweisen, dass sie auch allein stark war und auf eigenen Füßen stehen konnte. Aber war sie denn wirklich allein? Gott stand ihr bei und hielt seine Hand schützend über sie.
    Als ersten Umsteigebahnhof erreichte der Zug Düsseldorf. Der Bahnsteig wirkte wie frisch gescheuert, die Menschen trugen samt- und pelzbesetzte Kleidung. Frauen stolzierten mit Gold- und Perlenschmuck behängt einher. Die breiten Krempen ihrer Schutenhüte glichen übergroßen Scheuklappen, die die Sicht zur Seite hin unmöglich machten. Die Männer trugen kurze, wohlfrisierte Bärte und schwangen silberbeschlagene Spazierstöcke. Sogar die Kinder gefielen sich in einer Vornehmheit, die sie ganz offensichtlich den Erwachsenen abgeschaut hatten.
    Nach einer halben Stunde Wartezeit ging es weiter durch Waldlandschaften, vorbei an satten grünen Wiesen und Feldern, auf denen Bauern ihre Arbeit unterbrachen und dem qualmenden schwarzen Ungetüm zuwinkten. Sie machten halt in Städten, die Dorothea bisher nur aus dem Schulbuch kannte. Duisburg, Gelsenkirchen, Dortmund, Hamm … In Bielefeld mussten Reisende Richtung Norden ein weiteres Mal umsteigen. Diesmal ergatterte Dorothea einen Platz neben der unverglasten Fensteröffnung, wo sie den Fahrtwind auf ihrem Gesicht spürte.
    Müde ließ sie den Kopf gegen die harte Rückenlehne sinken. Angesichts der vorübereilenden, stetig wechselnden Landschaften schwindelte ihr. Mehr als die Hälfte der Strecke war überstanden, und sie wäre noch viele weitere Stunden unterwegs. Der Magen knurrte ihr, und sie verspürte Hunger. Was sie mit Dankbarkeit erfüllte, denn das konnte nur bedeuten, dass zumindest ihr Körper sich binnen weniger Tage von der Fehlgeburt erholt hatte. Wie allerdings ihr Herz und ihre Seele diesen schrecklichen Verlust verwinden sollten, darum musste sie sich zu einem späteren Zeitpunkt kümmern.
    Der kleine Weidenkorb fiel ihr ein, in den ihr die Patentante Proviant eingepackt hatte. Sie nahm einige Schlucke Apfelmost und biss herzhaft in ein Käsebrot. Der Geschmack erinnerte sie an Katharina, an die Güte und Zuversicht, die sie ausstrahlte, an die einfache, aber doch heimelige Wohnung. Ob sie wohl gerade wieder am Fenster saß, einen Kragen annähte oder einen Saum ausbesserte und sich dabei die Fingerkuppen wund stieß?
    Minden, Wunstorf, Hannover … Jeden einzelnen Knochen spürte Dorothea, doch zumindest hatte sie sich an das gleichförmige Rattern der Räder gewöhnt, auch an das Holpern und Schlingern und an das bedrohlich klingende Knarren, wenn der Wagen sich in den Kurven zur Seite neigte.
    Der Zug hielt an, die Türen wurden geöffnet. »Lehrte Bahnhof. Reisende Richtung Harburg bitte aussteigen«, ertönte die markige Stimme eines Schaffners, der draußen mit wichtigtuerischer Miene von Waggon zu Waggon schritt. Dorothea nahm Koffer und Proviantkorb und wäre beinahe über einen Hühnerkäfig gestolpert, den eine alte Frau in den schmalen Durchgang geschoben hatte. Aufgeregt schlugen die braun gefiederten Vögel mit den Flügeln und gackerten laut. Die alte Frau keifte unverständliche Worte und schwang drohend die Faust.
    Dorothea stieg eilends aus und lief umher, um ihre verspannten Glieder zu lockern. Auf der anderen Seite des Bahnsteiges waren einige Männer in rußgeschwärzter Kleidung damit beschäftigt, Kohlesäcke in den Führerstand der Lokomotive zu wuchten.
    »Reisende nach Harburg über Celle und Lüneburg bitte einsteigen!«, ertönte eine Stimme. Dorothea fand sich kurze Zeit später zwischen zwei Frauen wieder, von denen die eine unentwegt Äpfel in sich hineinstopfte und die andere ein Wollknäuel hervorholte und an einer grauen Männersocke strickte.
    Endlich hatte der Zug sein Ziel erreicht. »Harburg, Endstation. Alle aussteigen bitte!«, erscholl es vom Bahnsteig. Dorothea folgte einer Gruppe von Reisenden zum nahe gelegenen Schiffsanleger. Verwitterte Kähne lagen hier neben frisch gestrichenen Booten. Einige Kräne ragten in den frühabendlichen Himmel. Es roch nach fauligem Abwasser und Fisch. Die Elbe war an dieser Stelle nicht einmal halb so breit wie der Rhein bei Köln. Möwen umschwirrten einen Fischkutter, der in einen Seitenkanal einbog. Vom Anleger aus transportierten kleinere Segelschiffe Menschen, Tiere und Güter über den Fluss. Der Kapitän des Einmasters

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