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Das Land zwischen den Meeren

Das Land zwischen den Meeren

Titel: Das Land zwischen den Meeren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Paredes
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dich getan. Was wirst du eigentlich unternehmen, wenn das Geld nicht reich t? Eine Unterkunft in Hamburg bis zur Abfahrt des Schiffes, die Überfahrt, dann die Kosten für die Verpflegung an Bord … da kommt eine Menge zusammen.«
    »Dann suche ich mir eben in Hamburg eine Stelle als Hauslehrerin und fahre einige Monate später. Aber ich muss meine alte Umgebung hinter mir lassen, sonst würde ich ersticken.«
    Katharina holte eine Porzellandose aus dem oberen Regal der Anrichte und leerte die Dose. In ihrer Hand klimperten Münzen. »Es ist zwar nicht viel, aber ich bestehe darauf, dass du das Geld annimmst. Und du musst mir versprechen, regelmäßig zu schreiben. Damit ich weiß, dass es dir gut geht.«
    »Nein, das kann ich nicht annehmen …« Beschämt starrte Dorothea auf die Silbermünzen.
    »Keine Widerrede. Und jetzt lass uns gehen. Bevor mich der Abschiedsschmerz überkommt und ich doch noch in Tränen ausbreche.«
    Trotz der frühen Morgenstunde herrschte auf dem Bahnhofsvorplatz ein geschäftiges Hin und Her. Ein- und Zweispänner hielten an, luden Männer und Frauen mit Gepäck aus und nahmen andere auf. Zeitungsjungen riefen die neuesten Schlagzeilen aus und verkauften ihre Blätter an vorbeihastende Reisende. An einer Bude wurden Lebkuchen und frische Backwaren verkauft. Ein verführerischer Duft zog über den ganzen Platz. Zwei kleine Mädchen zerrten ihre Mutter zu dem Stand und quengelten so lange, bis jede von ihnen ein Zuckerhörnchen erhielt. Doch dann bekamen die beiden sich in die Haare, ein Hörnchen fiel zu Boden, und das Geschrei erhob sich von Neuem. Im Nu waren Tauben zur Stelle und machten sich gegenseitig das Gebäck streitig. Die Mutter schimpfte mit den Kindern, kaufte schließlich ein neues Hörnchen und zog die Töchter mit lauten Ermahnungen hinter sich her zum Droschkenstand.
    Am Fahrkartenschalter herrschte dichtes Gedränge. Doch der Beamte ließ sich nicht aus der Fassung bringen. Jeder Gast wurde mit größter Ruhe bedient.
    »Nach Hamburg wollen Sie, Frolleinchen? Ja, das wollen viele. Aber das ist nicht möglich. Der Zug endet nämlich in Harburg. Da müssen Sie erst in ein Boot umsteigen und über die Elbe segeln.« Der Schalterbeamte musterte Dorothea über den Rand seines Zwickers hinweg. »Und in welcher Klasse möchte das Frolleinchen denn reisen?«
    Dorothea wählte die vierte und preiswerteste Klasse. Schließlich musste sie jeden Pfennig für die monatelange Seefahrt und andere unvorhergesehene Ausgaben zusammenhalten.
    Auf dem Bahnsteig hatten sich zahlreiche Reisende eingefunden. Manche von ihnen mit eleganten Lederkoffern, andere mit Holzkisten, Kiepen und Säcken. Ein Liebespaar hatte sich hinter einen Pfeiler zurückgezogen und nahm innig umschlungen und mit verstohlenen Küssen Abschied. Dorothea sah schnell weg, wollte keine traurigen Erinnerungen in sich wecken. Die Menge trat zurück, als die Lokomotive mit vier Waggons unter lautem Pfeifen und in einer riesigen Dampfwolke auf dem Gleis einfuhr. Schaffner in blauen Uniformen öffneten die Türen, und die Menschen stürmten die Abteile.
    »Du musst nach hinten in die vierte Klasse. Beeil dich, Dorothea, sonst bekommst du keinen Sitzplatz mehr.«
    Die beiden Frauen hasteten bis zum Ende des Zuges, umarmten einander ein letztes Mal und lächelten tapfer. Beim Einsteigen vernahm Dorothea noch ein mahnendes »Pass gut auf dich auf, mein Kind!« hinter ihrem Rücken, dann schlossen sich die Türen. Ein Schaffner setzte die Trillerpfeife an den Mund und gab dem Lokomotivführer ein Handzeichen. Pfeifend, zischend und qualmend setzte der Zug sich in Bewegung. Die Zurückgebliebenen auf dem Bahnsteig winkten mit Taschentüchern, Männer schwenkten ihre Hüte. Hier und da flossen Tränen. Der Zug legte sich in eine Kurve, und Dorothea sah, wie die Patentante immer kleiner wurde und schließlich als winziger Punkt in der Ferne verschwand.
    Sie hatte Katharina gegenüber nicht zugeben wollen, wie schwer ihr der Abschied in Wahrheit fiel und dass sie Angst hatte. Angst, weil sie sich nicht auf Alexanders starken Arm stützen konnte. Auch Angst vor der langen Reise, auf der Gefahren wie Stürme, Krankheiten und Piraterie drohten, vor den fremden Menschen, denen sie begegnen würde, vor Einsamkeit und Armut. Davor, in der Fremde womöglich nicht zu bestehen. Mit weichen Knien ließ Dorothea sich auf der harten, unbequemen Holzbank nieder.
    Noch konnte sie zurück. An der nächsten Station aussteigen und wieder nach Deutz

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