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Das Land zwischen den Meeren

Das Land zwischen den Meeren

Titel: Das Land zwischen den Meeren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Paredes
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und Stein auf Stein setzten, andere maßen Fenster aus oder errichteten einen Dachstuhl. Eine Inschrift erinnerte an den verheerenden Brand vom sechsten Mai 1842, als an genau dieser Stelle ein Feuer ausgebrochen war und erst am Gänsemarkt hatte eingedämmt werden können, nachdem der Senat eine Feuerschneise mitten durch die Bebauung hatte sprengen lassen. Zweiundsiebzig Straßen, mehr als hundert Speicher und öffentliche Bauwerke sowie über tausend Wohnhäuser hatte das Feuer seinerzeit vernichtet.
    Dorotheas Blick fiel auf ein altes Haus mit bröckeligem gräulichem Putz. Pension Wilhelmina war auf einem Türschild zu lesen. Im Fenster hing ein handgeschriebenes Schild: Logis nur für Frauen und Fräuleins. Sauber und preiswert. Die Haustür stand offen. Dorothea spähte hinein und entdeckte eine hagere kleine Frau, die mit dem Aufziehen einer Standuhr beschäftigt war. »Guten Morgen, die Dame. Darf ich eintreten?«
    Die Frau mochte etwa siebzig Jahre alt sein. Unter dem Rocksaum ihres schwarzen Kleides waren zwei ausgetretene, mit buntem Garn geflickte Pantoffeln zu erkennen. Haube und Haar waren von ein und demselben Weiß. Sie wandte sich um und schlurfte auf Dorothea zu.
    »Moin, moin. Immer rein in die gute Stube, mien Deern. Aber eine Dame bin ich nicht, ich bin Wilhelmina Hansen, die Wirtsfrau. Du suchst also ein Zimmer. Wie lange willst du denn in unserer schönen Hansestadt bleiben?«
    Dorothea wunderte sich über die vertrauliche Anrede der Wirtin, doch die Frau erschien ihr gleich beim ersten Wort vertrauenerweckend. »Ich heiße Dorothea Fassbender. Tja, ich weiß noch nicht genau … ungefähr zwölf Tage.«
    Wilhelmina Hansen lächelte breit. »Sehr gut, ich freu mich, wenn mal jemand länger bleibt. Dann hat man mehr Zeit zum Schnacken. Du erinnerst mich an meine Nichte, die hat einen Laden für Haushaltswaren ganz in der Nähe vom Jungfernstieg. Allerfeinste Adresse. Wie? Ach so, eine Übernachtung kostet neun Silbergroschen, Verpflegung inbegriffen. Und wenn du Wäsche hast, mach ich die auch. Aber dafür musst du das Zimmer selber reinmachen. Ich hab in letzter Zeit mal bannig Ärger mit den Hüften, komm nicht mehr so gut die Stiege rauf.«
    »Einverstanden.« Dorothea konnte ihr Glück kaum fassen. Welch wunderbarer Tag! Sie war in Hamburg, hatte innerhalb weniger Stunden eine Schiffspassage reserviert und obendrein eine erschwingliche Bleibe bei einer liebenswerten Wirtin gefunden. Ihrer Zukunft stand demnach nichts mehr im Weg. Doch nun wollte sie endlich den schweren Koffer abstellen, die müde gelaufenen Füße hochlegen und ausruhen. Und danach der Patentante einen Brief schreiben, in dem sie von ihren aufregenden Erlebnissen berichtete.
    Die Tage in der Pension waren überaus kurzweilig. Die Mahlzeiten nahm Dorothea in der Küche gemeinsam mit der Wirtin ein, die sich als muntere Gesprächspartnerin erwies. Von sich selbst erzählte Dorothea nicht viel, nur dass ihr in Deutschland das Klima zu kalt sei und sie sich in Costa Rica eine Stelle als Lehrerin oder Hauslehrerin suchen wolle. Die Alte zuckte nur mit den Mundwinkeln und stellte keine weiteren Fragen.
    Vormittags streifte Dorothea durch die Stadt, staunte über die breiten Straßen, die Boulevards und imposanten Kontorhäuser. Sogar einen Pferdeomnibus gab es, der bis zu zwanzig Personen befördern konnte. Vor den Geschäften, deren Auslagen mit eleganter Mode, englischen Tees sowie erlesenem Schmuck lockten, hielten die auf Hochglanz polierten Kutschen feiner Herrschaften. Die Bürger dieser Stadt schritten stolz einher, schienen weniger in Eile zu sein, als Dorothea es von den Kölnern gewohnt war. Händler aus aller Herren Länder waren hier in Hamburg anzutreffen, ein vielstimmiges Sprachengewirr erfüllte die Luft.
    Sie gelangte zur Alster, die von vornehmen, weiß getünchten Patrizierhäusern gesäumt war. Fütterte am Ufer die Schwäne, denen eilig herbeifliegende Enten die Brotstückchen streitig machen wollten. Zwischendurch setzte sie sich auf eine Bank in der Sonne und zeichnete die blassen, schmächtigen Dienstmädchen, die die Einkäufe für ihre Herrschaften in Henkelkörben nach Hause trugen.
    In heiteren Momenten träumte Dorothea von einem Leben in paradiesischer Landschaft, von einer sicheren Anstellung und von Schülern, die mit offenen Augen und Ohren ihrem Unterricht folgten, von Menschen, die ihr für diese Arbeit Anerkennung zollten. In trüben Augenblicken war sie verzagt, vergoss heimliche Tränen um

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