Das Land zwischen den Meeren
kreuzunglücklich. Köln ist nicht mehr meine Heimat. Nachdem Vater und Mutter mir keine andere Wahl gelassen haben. Sie sollen auch nicht erfahren, dass ich mein Kind verloren habe. Das würde nichts ändern. Außer dir weiß niemand, wohin ich reise. Auch meine Schulfreundinnen von früher nicht. In letzter Zeit haben wir ohnehin seltener Briefe ausgetauscht oder uns gesehen, weil jede ihren eigenen Pflichten nachgeht. Ich kann nur weiterleben, wenn ich einen Schlussstrich unter die Vergangenheit ziehe.«
Katharinas Unterlippe zitterte, ihre Stimme wurde leise und brüchig. »Vielleicht hätte ich auch weggehen sollen, damals. Aber anders als du fühlte ich mich in meiner Heimatstadt verwurzelt.«
Dorothea merkte auf, denn die Patentante wirkte plötzlich bedrückt. »Möchtest du davon erzählen, Tante Katharina?«
»Ach, das ist eine lange Geschichte … Erwin starb vor zwölf Jahren. Du erinnerst dich sicher noch an ihn. Er hatte mir mit seiner Schreinerei eine Menge Schulden hinterlassen, und es war nicht einfach für mich, meinen Unterhalt alleine zu bestreiten. Eines Tages lernte ich einen Mann kennen – und verliebte mich in ihn. Endlich hatte ich wieder eine Schulter zum Anlehnen, einen Menschen, mit dem ich lachen, weinen und reden konnte. Und dann erzählte er mir, dass er verheiratet war. Seine Frau war nach dem Tod ihres einzigen Kindes wahnsinnig geworden und lebte seither in einer Irrenanstalt.«
»Ich erinnere mich da an etwas …« Mit gerunzelter Stirn dachte Dorothea nach. »Ja, es gab einmal eine heftige Auseinandersetzung zwischen meinen Eltern. Dein Name fiel – und auch der eines Mannes.«
Katharina schluckte mehrmals und verzog spöttisch die Mundwinkel. »Deine Eltern haben zufällig von dieser unglücklichen Liebe erfahren. Zuerst haben sie mich als Ehebrecherin beschimpft – und dann fallen gelassen.«
»Also, dann war das der Grund, warum ich dich nicht mehr besuchen durfte und wir uns nur noch schreiben konnten. Ach, Tante, hätte ich nur eher davon gewusst! Ich hätte dich deswegen niemals verachtet.«
»Deine Eltern haben sehr strenge Moralvorstellungen.« Katharina lachte bitter auf und stieß die Gabel in ein Pfannkuchenstück.
»Und wie ist die Geschichte ausgegangen?«
»Er wollte seine kranke Frau nicht im Stich lassen. Und ich hätte es auch nie von ihm verlangt. Eines Tages ist er gegangen, und ich habe nie wieder von ihm gehört.«
»Das tut mir sehr leid.« Dorothea biss sich auf die Lippen, empfand ein schlechtes Gewissen, weil sie die Patentante mit ihrer Frage traurig gemacht hatte. Und mit einem Mal konnte sie einen Gedanken in Worte fassen, der sie schon lange beschäftigte, auf den sie aber keine Antwort wusste. »Weißt du, dass ich immer das Gefühl hatte, meine Eltern würden mir etwas verschweigen?«
Katharina griff hastig und mit unsicheren Fingern nach dem Bierhumpen und hätte ihn beinahe umgeworfen. Dann platzte es aus ihr heraus. »Manche Menschen verwenden in ihrem Leben eben viel Kraft darauf, eine Lebenslüge aufrechtzuerhalten.« Sofort schlug sie sich die Hand vor den Mund. »Was rede ich da für Unsinn? Das darfst du nicht ernst nehmen, das habe ich nur so dahingesagt.«
»Wie meinst du das, Tante Katharina? Und vor allem, wen meinst du damit?«
Doch Katharina machte nur eine fahrige Handbewegung und vertiefte sich in ihren Humpen. Dorothea runzelte abermals die Stirn. Sie war überzeugt – die Patentante wusste mehr, als sie in diesem Augenblick preisgeben wollte. »Was wohl deine Dienstherren sagen? Eine so tüchtige Hauslehrerin wie dich werden sie bestimmt nur ungern verlieren, habe ich recht?«
Bei Katharinas überraschender Frage zuckte Dorothea zusammen, und die Röte stieg ihr in die Wangen. Daran hatte sie überhaupt nicht mehr gedacht. Die Rodenkirchens wussten ja gar nichts von ihren Plänen! Doch wie sollte sie ihnen den plötzlichen Aufbruch erklären? Was würde das Ehepaar von ihr denken, und vor allem, was würden die Kinder sagen? Sie hatte der Familie viel zu verdanken, konnte sich nicht einfach ohne Abschied auf und davon machen. In einer Woche würden sie aus den Ferien zurückkehren … Dorothea beschloss, ihnen zu schreiben. Nicht heute, nicht morgen, aber sobald sie in Hamburg angekommen wäre.
Dorothea klappte den Kofferdeckel zu und umarmte die Patentante, hielt sich an ihr fest und drückte ihr einen Kuss auf beide Wangen. »Danke, liebste Tante, danke für alles.«
»Ach, Kind, wie gern hätte ich mehr für
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