Das Land zwischen den Meeren
müssen wir eine Beglaubigung aus Köln anfordern. Mit etwas Glück ist sie binnen einer Woche hier.«
Mit einem Mal merkte Dorothea, wie müde und erschöpft sie war und wie schwer ihr das Denken fiel. Am liebsten hätte sie sich irgendwo in einem Bett verkrochen – so lange, bis sich alles von selbst geregelt hätte und das Schiff in See stechen würde. Aber da gab es noch etwas zu klären. »Und – wie viel kostet so eine Passage?«
»Das hängt davon ab, Fräulein. Bei einem Frachtsegler gibt es wegen der wenigen Kojen nicht die üblichen Klassen wie auf den großen Passagierschiffen.«
»Ich nehme die preiswerteste Koje.«
»Wollen wir doch mal sehen.« Der Beamte schlug ein gräuliches Heft auf und suchte mit einem Lineal die Zeilen ab. »Ach, hier steht es ja. Eine Passage für Reisende mit zeitlich beschränktem Aufenthalt von bis zu achtzehn Monaten … im Zwischendeck … von Hamburg, Deutschland, nach Puntarenas, Costa Rica … siebzig Taler. Zuzüglich ein Taler Bearbeitungsgebühr für die eilige Ausstellung einer Unbescholtenheitserklärung. Tja, und vermutlich wollen Sie auch etwas essen und trinken. Sie sind schließlich vier bis fünf Monate unterwegs.« Der Beamte nahm seinen Kneifer ab und spitzte seine Bleistifte, ohne sich allerdings von seinen ausschweifenden Erklärungen abhalten zu lassen. »Die Reederei Paulsen stellt großzügigerweise Matratzen, Decken, Wasch- und Essgeschirr sowie Proviant zur Verfügung. Schließlich haben diese Leute Erfahrung und wissen am besten, welche Lebensmittel sich über den langen Zeitraum halten und wie viel ein einzelner Reisender benötigt. Kommen also zehn Taler Zehrgeld hinzu.«
Dorothea fiel ein Stein vom Herzen. Mit dem Geld der Tante besaß sie insgesamt einhundertzwanzig Taler. Zwar musste sie bis zum Tag ihrer Abreise ein Zimmer in der Stadt mieten, doch dann bliebe ihr immer noch eine kleine Summe für den Start in Costa Rica.
»Dann werden wir also gemeinsam auf große Fahrt gehen, mein Fräulein. Darf ich mich vorstellen? Jensen, Erik Jensen. Ich bin Kaufmann, habe einen Gemischtwarenladen in Costa Rica, genauer gesagt, in der Hauptstadt San José.«
Dorothea wandte sich um, ergriff die dargebotene Rechte des Fremden und blickte in stechend blaue Augen unter buschigen Brauen. »Angenehm. Ich heiße Dorothea Fassbender«, antwortete sie und fühlte sich mit einem Mal unbehaglich, da der Mann sie prüfend von Kopf bis Fuß musterte.
Der Beamte hatte es plötzlich eilig. »Hören Sie, Fräulein, in fünf Minuten mache ich Fofftein. Dann beginnt meine Frühstückspause, und ich schließe das Bureau. Sollten Sie tatsächlich eine Passage buchen wollen, dann füllen Sie rasch dieses Formular aus. Ich übertrage nachher die Angaben zu Ihrer Person für die Anforderung der Unbescholtenheitserklärung. Bis spätestens zwei Tage vor der Abreise müssen Sie die Bordkarte abgeholt und alles bezahlt haben. Andernfalls geht sie an einen anderen Reisenden.«
Beschwingt trat Dorothea ins Freie hinaus. Der Tag hatte erfolgreich begonnen. In weniger als zwei Wochen würde sie ihr altes Leben endgültig hinter sich lassen. Alles lief nach Plan, es hätte nicht besser kommen können. Jetzt musste sie nur noch bis zur Abfahrt eine preisgünstige Bleibe finden. Die Pfiffe und anzüglichen Gesten der Schauerleute, Plankenmänner und Matrosen trieben Dorothea eilends aus dem Hafen. Die milden Temperaturen und der strahlend blaue Himmel über der Stadt reizten zum Bummeln.
Sie bemerkte einen unbekannten, modrig fauligen Geruch, der aus den Kanälen zwischen den Häuserreihen aufstieg. Diese Fleete dienten als Wasserstraßen, auf denen Waren in Lastkähnen zwischen dem Hafen und der Stadt hin und her transportiert wurden. Und eindeutig dienten sie auch als Kloaken. Hinter den offen stehenden Holztoren der schlichten roten Backsteinhäuser verrichteten Tau- und Segelmacher, Zimmerleute und Schreiner ihre Arbeit. Es wurde geklopft, gehämmert und gesägt. Von irgendwoher hörte Dorothea das Geräusch einer schallenden Ohrfeige, dann lautes Wehgeschrei. Vermutlich eine Auseinandersetzung zwischen Meister und Gesellen.
Dorothea gelangte in die Deichstraße, eine schmale, gewundene Gasse mit Giebelhäusern, von denen einige sogar aus dem 17. Jahrhundert stammten, wie vergoldete Jahreszahlen über dem Türsturz verkündeten. Unmittelbar daneben erhoben sich neue Gebäude und solche, die noch unfertig waren. Überall waren Handwerker zugange, die ihre Kellen schwangen
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