Das Land zwischen den Meeren
den toten Geliebten und das verlorene Kind, fühlte sich mutlos und verzagt und befürchtete, in der Fremde kläglich zu scheitern und ein Dasein in Einsamkeit und Armut fristen zu müssen. Wenn sie in die Pension Wilhelmina zurückkam, half sie der Wirtin beim Fensterputzen, besserte ihr einen Rock aus oder skizzierte sie lesend am Fenster. Die alte Frau suchte einen vergoldeten Rahmen für die Zeichnung heraus und räumte dem Bild einen Ehrenplatz über dem Kamin ein.
Am Sonntag, nachdem sie den Gottesdienst in der Katharinenkirche besucht hatte, nahm Dorothea endlich in Angriff, was ihr schon lange auf der Seele lag: Sie schrieb einen Brief an ihre früheren Dienstherren.
Sehr geehrter Herr Rodenkirchen, sehr geehrte Frau Rodenkirchen. Unvorhergesehene Umstände zwingen mich, auf eine lange Reise zu gehen. Leider konnte ich Ihnen und den Kindern nicht Lebewohl sagen. Ich danke Ihnen für das Vertrauen, das Sie mir entgegengebracht haben, und hoffe, dass Sie mich in guter Erinnerung behalten werden. Mit vorzüglicher Hochachtung, Ihre Dorothea Fassbender.
Als die neue Woche begann, machte Dorothea sich beschwingt auf den Weg zum Hafen. Zuvor hatte sie das Geld für die Schiffspassage in einen Samtbeutel gesteckt und tief in ihrer Rocktasche verstaut. An den Laderampen standen Pferdefuhrwerke für den weiteren Warentransport auf dem Landweg bereit. Talleute standen auf der Kaimauer, prüften mit strengen Blicken, ob die Waren unbeschädigt waren, und listeten in ihren Büchern die Frachtmengen auf, die beladen oder entladen wurden. Dorothea hatte schon fast die breite rote Ziegelsteinfassade des Hafenamtes passiert, als unerwartet ein etwa vierzehnjähriger Junge mit zwei Eimern voll Wasser aus einer engen Gasse zwischen einer Schiffszimmerei und dem Überseebureau auftauchte. Er lief Dorothea so eilig entgegen, dass sie nicht mehr ausweichen konnte. Wasser schwappte auf ihre Stiefeletten, sie spürte einen Schlag gegen das Schienbein, und dann lag sie am Boden.
»Entschuldigung, mein Fräulein, wie ungeschickt von mir! Haben Sie sich wehgetan?«
Dorothea sah eine mittelgroße, schmale Gestalt mit einer Kappe, die tief in die Stirn gezogen war und das Gesicht fast vollständig verdeckte. Und mit einem Mal war da noch ein anderer Junge. Gemeinsam halfen sie Dorothea auf die Füße. »Schönen Tag noch!«, riefen sie ihr zu und waren plötzlich wie vom Erdboden verschluckt. Nur die umgekippten Wassereimer lagen noch da.
Während Dorothea sich den Staub aus den Kleidern klopfte, begann ihr Herz plötzlich heftig zu pochen. Von bangen Ahnungen befallen, hielt sie mitten in der Bewegung inne. Sie fühlte Schweißperlen auf der Stirn, war wie gelähmt und vermochte die Hand nicht zu der Rocktasche zu führen, wo sie den Geldbeutel aufbewahrte. Als ihre Finger aus der Starre erwachten und über den glatten Kleiderstoff wanderten, wurde ihre schlimmste Befürchtung Gewissheit. Aber … wie war das möglich? Das konnte und durfte nicht wahr sein! Sie hörte sich laut aufschreien. Der Beutel steckte nicht mehr in der Tasche. Die Jungen hatten ihn gestohlen.
Wut überkam sie, die Luft vor ihren Augen flimmerte, ihre Beine zitterten. Die Hände suchten Halt an der roten Backsteinfassade. In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und der Kaufmann Erik Jensen, den sie am Tag ihrer Ankunft zufällig kennengelernt hatte, trat ihr entgegen.
»Mein Fräulein, was ist geschehen? Fühlen Sie sich nicht wohl?«
Dorothea blickte hilflos umher, hoffte inständig, es handele sich um eine Verwechslung oder um einen Spuk, der wieder verschwände. Ihr gelang nur ein heiseres Krächzen. »Zwei Jungen … sie haben mir mein Geld gestohlen.« Eine stützende Hand schob sich unter ihren Ellbogen.
»Sie zittern ja. Kommen Sie, setzen Sie sich hier vorn auf die Bank! Welche Unverfrorenheit! Können Sie beschreiben, wie die beiden aussahen?«
»Wie …? Nein, es ging alles so schnell. Ich bin hingefallen. Die Jungen haben mir aufgeholfen. Dann waren sie auch schon weg. Als hätten sie sich in Luft aufgelöst.« Dorothea konnte sich nicht länger beherrschen. Tränen flossen in Strömen über ihr Gesicht, ihr ganzer Körper bebte. Sie schluckte und schluchzte, fühlte Wut und Verzweiflung. Denn nicht nur das Geld hatten die gemeinen Diebe ihr weggenommen, nein, sie hatten ihr die ganze Zukunft gestohlen!
Erik Jensen setzte sich zu ihr auf die Bank und reichte ihr ein Taschentuch. Dorothea schnäuzte sich, wusste nicht mehr, was sie
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