Das Land zwischen den Meeren
Kaiserhof an der Binnenalster. Falls Sie sich doch eher entscheiden sollten …«
Wilhelmina nahm einen kräftigen Schluck Bier aus ihrem Humpen und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. »Nun, was soll ich dazu sagen, mien Deern? Wie ich gehört habe, ist Erik Jensen vor etwa fünf Jahren nach Mittelamerika ausgewandert. Ihm war Hamburg zu eng geworden, und ihn lockte wohl auch das Abenteuer. Er hat keine Familie, soweit ich weiß. Als Kaufmann hatte er in der Stadt einen untadeligen Ruf. Ich glaube, er hat sich sogar einmal um den Posten eines Senators beworben. Ich an deiner Stelle täte auf das Angebot eingehen.«
»Aber ich kann doch nicht von einem wildfremden Menschen Geld annehmen.«
»Tust du ja auch nicht. Jensen gibt dir nur einen Vorschuss auf deine künftige Arbeit in seinem Geschäft. Daran ist nichts Unredliches.«
Dorothea nahm einen winzigen Bissen von dem Käsebrot, doch ihr Magen rebellierte gegen jede Nahrung. Sie straffte die Schultern und schlug mit der Faust auf den Tisch. »Nein, ich lasse mich von niemandem aushalten. Ich suche mir in Hamburg eine Stelle als Hauslehrerin und fahre erst im Herbst nach Costa Rica. Wenn’s sein muss, auch noch später.«
Die Wirtsfrau nahm einen weiteren Schluck, spülte ihn durch die Zähne und lächelte milde. »Das schlag dir mal nur aus dem Kopf, mien Deern. Erstens bist du Rheinländerin und Katholikin. Hast also in den Augen der Protestanten hier im Norden die falsche Religion. Und zweitens bist du zu jung und zu hübsch. Keine Reeders-, Pastoren- oder Arztfrau ließe dich in ihr Haus. Sie hätte viel zu viel Angst, ihr Mann könnte dir nachsteigen. Ich kenne die Hamburgerinnen – wenn’s um ihre Ehe geht, verstehen die keinen Spaß.«
Warum nur musste das Leben so schwierig, so ausweglos sein?, fragte Dorothea sich. Am liebsten hätte sie sich in ihrem Bett verkrochen. Sie wollte nichts mehr sehen, nichts mehr hören, nicht mehr sprechen. Aber – hätte Alexander es gutgeheißen, dass sie vor sich selbst davonlief?
»Wenn du möglichst schnell zu Geld kommen willst«, hörte sie die Wirtin sagen, »dann gibt es nur zwei Möglichkeiten. Du darfst nicht erschrecken, aber man muss das mal ganz nüchtern sehen. Entweder du heiratest einen reichen Hamburger Pfeffersack. Oder du musst runter zum Hafen gehen – und auf spendable Matrosen warten. Du bist eine plietsche Deern, in diesem Beruf hättest du vermutlich beste Aussichten.«
Dorothea stutzte – und erbleichte, als sie begriff. Sie biss in ihr Käsebrot und vertilgte es in Windeseile bis auf den letzten Krümel.
In der Nacht schlief sie schlecht, hätte am liebsten die Patentante an ihrer Seite gehabt und sie um Rat gefragt. Während des Frühstücks ließ sie sich von Wilhelmina überreden, beim Überseebureau nachzufragen, wie viele Plätze auf dem Schiff noch frei waren. Möglicherweise würde diese Auskunft ihr die Entscheidung leichter machen.
Sie nahm auf der Holzbank Platz und beobachtete aus der Entfernung ein Ehepaar mittleren Alters, das am Schalter heftig miteinander stritt.
»Ich schlafe auf keinen Fall unten neben dem Laderaum, wo sich Ratten und anderes Ungeziefer tummeln«, erklärte die dürre große Frau, die ihren Mann um mehr als einen Kopf überragte. Hektische rote Flecken überzogen ihr hageres Gesicht. »Wenn du mich in das Zwischendeck stecken willst, bleibe ich hier. Dann kannst du allein fahren und zusehen, wer für dich kocht und putzt und die Bücher führt. Und ich kehre zu meiner Mutter nach Hannover zurück.«
»Nun gut«, seufzte der dickliche kleine Mann mit sauertöpfischer Miene und zog einen Geldbeutel aus dem Mantel. »Dann nehmen wir in Gottes Namen eine Kabine auf dem Oberdeck.«
»Da haben die Herrschaften aber Glück gehabt«, erklärte der Beamte und füllte langsam und umständlich ein Formular aus. »Das Schiff ist nämlich so gut wie ausgebucht. Inzwischen gibt es nur noch einen einzigen Platz. Der ist heute Morgen frei geworden, weil ein Fräulein, das eine Passage reserviert hatte, ihre Bordkarte nicht abgeholt hat. Übermorgen werden die Anker gelichtet.«
So leise und unauffällig wie möglich erhob Dorothea sich und verließ eilig das Bureau. Wie versteinert blieb sie vor der Tür stehen, während ihr ein eiskalter Schauer den Rücken hinunterlief. Was, wenn in den nächsten Stunden ein anderer die Passage buchen würde und dieser Platz für sie verloren wäre? Was sollte dann aus ihr werden? Wilhelminas Worte fielen ihr ein,
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