Das Land zwischen den Meeren
denken oder fühlen sollte.
»Die Bengel sind vermutlich längst über alle Berge. Sie können natürlich zur Polizei gehen und Anzeige erstatten. Aber ohne Personenbeschreibung wird man Ihnen nicht weiterhelfen können.«
Obwohl die Sonne vom Himmel schien, fröstelte Dorothea. Die Wut, die sie eben noch den beiden Taschendieben gegenüber empfunden hatte, richtete sich nun gegen sie selbst. Es war doch ihre eigene Schuld! Warum war sie nicht vorsichtiger gewesen und hatte den Beutel unter der Kleidung versteckt? Dafür gab es nur eine Erklärung. Weil sie dumm, leichtgläubig und ganz und gar nicht in der Lage war, die lange und möglicherweise gefährliche Reise allein zu bestehen.
»Sie wollen also nach Costa Rica?«, hörte sie den Kaufmann fragen und war mit einem Mal dankbar, dass jemand Anteilnahme und Mitgefühl zeigte. Sie nickte.
»Und dort wartet offenbar jemand auf Sie. Ein zukünftiger Ehemann vielleicht?«
Dorothea schüttelte den Kopf, und ein neuerlicher Tränenstrom floss ihr über die Wangen.
»Und … was sagt Ihre Familie zu den Reiseplänen?«
»Ich habe keine Familie«, stieß Dorothea hervor und musste sich eingestehen, dass diese Antwort in gewisser Weise der Wahrheit entsprach.
»Ja, aber warum wollen Sie dann ausgerechnet in die Tropen reisen, so weit weg von Deutschland?«
Sie tupfte sich mit dem Taschentuch über das Gesicht, straffte die Schultern und suchte nach einer plausiblen und zugleich unverfänglichen Antwort. »Ich vertrage das hiesige Klima nicht. Es hat mich krank gemacht. Außerdem werden in Costa Rica Lehrer für deutsche Aussiedler gesucht. Ich werde mir dort eine Stelle suchen. Oder als Hauslehrerin arbeiten.«
Erik Jensen rückte ein wenig näher an Dorothea heran und betrachtete sie aufmerksam von der Seite. »Ganz schön mutig für eine junge Frau! Haben Sie schon einmal in diesem Beruf gearbeitet?«
»Ich habe fast ein Jahr lang die beiden Kinder eines Notars unterrichtet«, erklärte Dorothea mit fester Stimme und gewissem Stolz. Ganz kurz nur fragte sie sich, wie wohl das Ehepaar Rodenkirchen, Moritz und Maria ihre Mitteilung aufgenommen haben mochten, dass sie nicht mehr käme. Schnell schob sie die Erinnerung beiseite, denn sie wollte sich in diesem Augenblick nicht zusätzlich mit schweren Gedanken belasten.
»Und jetzt, da man Ihnen das Geld gestohlen hat, können Sie die Passage nicht bezahlen. Vermute ich richtig?«
Dorothea biss die Zähne aufeinander und starrte vor sich hin. Sie mochte nicht zugeben, dass der Kaufmann recht hatte. Doch für Erik Jensen war ihr Schweigen Antwort genug.
»Es stimmt also …« Der Kaufmann legte eine Pause ein, schlug die Beine übereinander und zupfte an seinem grauseidenen Binder. Er räusperte sich, wählte seine Worte sorgfältig. »Ihr Missgeschick tut mir außerordentlich leid. Doch ich könnte Ihnen ein Angebot machen. Eine Vereinbarung unter Landsleuten sozusagen.«
Dorothea nickte und schüttelte gleich darauf den Kopf. »Ich verstehe nicht …«
»Nun, ich suche schon längere Zeit nach einer … wie soll ich sagen … vertrauenswürdigen Person, die mir in meinem Laden zur Hand geht. Mich auch vertritt, wenn ich geschäftlich unterwegs bin. Und das ist häufig der Fall. Von den Ticos, den Einheimischen, kann ich niemanden einstellen. Die sind alle unzuverlässig, würden nur in die eigene Tasche wirtschaften. Mein Vorschlag lautet: Ich strecke Ihnen das Geld für die Überfahrt vor, und Sie arbeiten dafür in meinem Laden, sagen wir … für ein dreiviertel Jahr. Danach sind wir quitt, und Sie können gehen, wohin Sie wollen.«
»Ja, aber … ich weiß nicht … ich brauche doch auch ein Zimmer … irgendeine Unterkunft, wo ich wohnen kann.«
»Machen Sie sich keine Sorgen. In meinem Haus ist Platz genug.« Jensen entging nicht, wie Dorothea ihn entgeistert anstarrte, und sprach rasch weiter. »Ansonsten … bei mir gegenüber lebt eine honorige Dame. Sie ist Argentinierin und unverheiratet. Dort könnten Sie Unterkunft und Verpflegung finden. Das bedeutet allerdings zusätzliche Kosten. In diesem Fall müssten Sie für ein volles Jahr bei mir arbeiten.«
Dorothea schwirrte der Kopf. Das war alles zu viel für sie. Erst der Überfall, dann die unerwartete Offerte des Kaufmanns … »Vielen Dank für Ihr Angebot, Herr Jensen. Aber … ich muss erst darüber schlafen.«
»Überlegen Sie nicht zu lange, Fräulein Fassbender. In vier Tagen lichtet unser Schiff den Anker. Ach ja, ich logiere im Hotel
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