Das Land zwischen den Meeren
alles, Kleidungsstücke und Kopfkissen flogen umher, und sie hätte nicht sagen können, wo oben und wo unten war.
In gekrümmter Haltung kauerte sie sich unter die Wolldecken, zitterte und fror. Dabei wagte sie kaum einzuatmen, denn die ganze Kajüte stank nach Erbrochenem. Die Stimmen ihrer Mitbewohnerinnen drangen wie von fern an ihr Ohr. Sie beteten. Dorothea fiel in einen Dämmerzustand, wusste nicht, ob sie wachte oder schlief, dachte an die tosende See und den weiten Weg, den sie noch vor sich hatte, und glaubte nicht mehr daran, diese Zeit heil zu überstehen. Sie stellte sich vor, wie das Schiff womöglich untergehen würde, verschlungen von haushohen Wellen. Und dass ihr neues Leben bereits zu Ende wäre, bevor es überhaupt begonnen hatte. Der Gedanke erschreckte sie keineswegs, er erschien ihr sogar verlockend. Wo war nur ihre Kraft geblieben, mit der sie bisher gekämpft und sich allen Schwierigkeiten widersetzt hatte?
Schemenhaft nahm sie ein Gesicht über sich wahr. Dunkles Haar, das zu einem Kranz um den Kopf geflochten war. Sie fühlte eine kühle Hand auf der Stirn. Jemand flößte ihr Brühe ein. War es Tag oder Nacht? Zeit und Raum lösten sich auf, sie war nur noch ein willenloser Körper, der in alle Himmelsrichtungen gezerrt wurde. Besorgte Mienen zeigten sich am Fußende ihrer Koje. Auf der Zunge schmeckte sie eine bittere Flüssigkeit, dann muffigen Zwieback. Unendlich schwach fühlte sie sich, obwohl sie nur dalag und schlief, lag und schlief. Zum Teil in der Hängematte, wo zwar das Hin- und Herschwanken schwächer war, nicht aber die Übelkeit, die ihr ganzes Innere erfasst hatte.
Hatte der Sturm aufgehört, oder trieb er das Schiff weiter auf dem aufgewühlten Meer? Vielleicht träumte sie nur und lag bereits auf dem Meeresgrund. Ihre Kehle war wie zugeschnürt und behinderte das Atmen. Also lebte sie noch. Oder vegetierte dahin. In einem kalten, dunklen, stinkenden Loch, aus dem es bestimmt kein Entkommen gab. Und dann auf einmal erkannte sie, dass sie einen großen Fehler begangen hatte. Den Fehler, in der Fremde ihr Glück suchen zu wollen. Das war egoistisch und selbstgerecht. Niemals hätte sie Deutschland verlassen und die Planken dieses Schiffes betreten dürfen. Sie bat Gott um Vergebung und bereute tief, was sie getan hatte.
Juni bis August 1848
Eines Morgens erwachte Dorothea in ihrer Koje. Ihr Kopf war klar, das Schiff glitt ruhig und gleichmäßig dahin, und zu ihrer Überraschung verspürte sie Hunger. Großen Hunger sogar. Sie kroch ans Fußende und kletterte aus dem schmalen Bett. Da erst wurde ihr ihre Kraftlosigkeit bewusst. Sie streckte die Beine durch und strich sich die Kleidung glatt, in der sie schon seit dem ersten Tag an Bord geschlafen hatte. So wie auch die übrigen Reisenden Tag und Nacht dasselbe trugen. Ihre Stiefeletten fand sie unter der Koje von Frau Meier, unmittelbar neben einem Nachttopf voll stinkender Exkremente. Sie schlüpfte in die Schuhe und schnürte sie fest zu, hatte das Gefühl, als seien sie ihr zu weit geworden.
»Das Fräulein Lehrerin ist von ganz allein aufgestanden!« Lottes durchdringende Stimme riss alle aus dem Schlaf. In den Kojen entstand Bewegung, und plötzlich richteten sich acht Augenpaare auf Dorothea.
»Jesusmariaundjosef, geht’s Ihnen wieder besser?« Elisabeth von Wilbrandt schaute erleichtert von oben auf Dorothea herab, ihr schwarzes Haar war zu zwei dicken Zöpfen geflochten, die über die Kante ihrer Koje hingen.
Dorothea nickte und räusperte sich. »Welchen Tag haben wir heute?«
»Den zwanzigsten Juni«, antwortete Klara Meier aus der Nachbarkoje, ging in die Hocke und knabberte an den Fingernägeln.
»Stimmt ja gar nicht, heute ist der einundzwanzigste«, verkündete über ihr Lotte mit triumphierendem Unterton. »Meine Eltern haben nämlich heute vor sechzehn Jahren geheiratet. Stimmt’s, Mutter?«
Helene Kampmann wimmerte vor sich hin. »Ach, was ist nur aus uns geworden? Ich mache mir solche Sorgen um Erwin. Er ist krank und hustet sich die Seele aus dem Leib. Jeden Tag wird er weniger. Wären wir doch nur in Koblenz geblieben!«
Während die anderen Helene Kampmann zu trösten versuchten, rechnete Dorothea erschrocken nach. Sie hatte also mehr als zwei Wochen dämmernd in ihrer Koje verbracht. Wer hatte ihr den Zwieback zu essen gegeben? Wer die bitteren Tropfen eingeflößt?
Elisabeth von Wilbrandt stand vor ihr und steckte sich die Zöpfe zu einem Kranz um den Kopf. »Ich freue mich, Sie wieder
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