Das Land zwischen den Meeren
der sie von der Seite her ansprach. »Wie ist es denn da unten mit den fremden Weibern und deren ungezogener Brut? Ziemlich laut und stickig, nicht wahr?« Seine buschigen Augenbrauen waren spöttisch hochgezogen. In seinem Blick lag etwas Überhebliches, das Dorothea zum Widerspruch reizte.
»Angenehm. Danke der Nachfrage. Die Frauen sind reizend und die Kinder wohlerzogen. Ich kann mich über die Unterbringung nicht beklagen.«
Jensen rümpfte die Nase und hob die Schultern. »Dann war mein erster Eindruck von unserer Reisegesellschaft wohl ein falscher. Sollten Sie dennoch das Bedürfnis nach etwas mehr Komfort haben … ich könnte Ihnen ein Angebot machen.«
Dorothea unterbrach ihn mit einer raschen Handbewegung, suchte nach einer ausweichenden Antwort. Was immer er ihr vorschlagen wollte, sie hatten eine Vereinbarung getroffen, und an die wollte sie sich strikt halten. Ein Jahr ihrer Arbeitskraft für eine Passage im Zwischendeck zuzüglich Kost und Logis in San José. Jeder zusätzliche Luxus bedeutete weitere Schulden, und sie wollte keinen einzigen Tag länger als unbedingt nötig in den Diensten dieses Kaufmannes stehen. »Ich danke Ihnen für Ihr Angebot, Herr Jensen. Sollte mir irgendwann danach zumute sein, komme ich darauf zurück.«
Hatte sie da ein Zucken seiner Lider bemerkt? Seine manchmal so stechenden Augen blickten sie ausdruckslos an. Doch dann verbeugte er sich höflich und zog sich in seine Kabine zurück.
Dorothea fühlte sich unbehaglich. Sie hatte sich einem Fremden ausgeliefert, der in einem Moment den Gentleman gab, im nächsten den Zyniker und dann wieder als Lebemann mit einer Frau von zweifelhafter Reputation in aller Öffentlichkeit durch die Stadt stolzierte. Aber nun gab es kein Zurück mehr, sie hatte sich entschieden, und sie würde die Überfahrt durchstehen. Irgendwann wäre auch das Jahr bei Jensen vorüber.
Sie blieb noch eine Weile an der Backbordreling stehen und spähte zum westlichen Elbufer hinüber. Ein Dreimaster segelte in entgegengesetzter Fahrtrichtung dicht an der Kaiser Ferdinand vorbei. Die Matrosen an der Reling winkten ihr zu, einige steckten die Finger in den Mund und pfiffen. Sie sollte besser wieder unter Deck gehen, ermahnte sie sich. Damit sie nicht sehen musste, wie das andere Schiff mit Kurs auf Hamburg hinter der nächsten Flussbiegung verschwand. Womöglich hätte dieser Anblick sie doch noch wehmütig gestimmt. Dorothea fröstelte, ihr Magen knurrte.
Die Mahlzeiten nahmen die Zwischendeckpassagiere gemeinsam ein. Die Kombüse war nur mit dem Allernötigsten ausgestattet: einem kleinen Holzofen, einem Spülbecken sowie einem Geschirrschrank. Die Passagiere saßen auf Bänken an einem rechteckigen Tisch, dessen Kante mit einer knapp handbreiten Holzleiste versehen war. So würden bei Seegang weder Gläser noch Geschirr herunterfallen. Tisch und Bänke konnten nicht beiseitegeschoben werden, sie waren am Boden festgeschraubt. Dies diente ebenfalls der Sicherheit der Reisenden bei unruhiger See.
Die Frauen hatten einen Küchenplan für die nächsten zwei Wochen erstellt. Jeder musste mit anpacken. Sie und die Mädchen waren für die Zubereitung der Speisen und das Auftischen zuständig, die Männer und Jungen für das Abräumen und Spülen. Es gab Kartoffelsuppe mit Gemüse und Speck, dazu in Scheiben geschnittenes dunkles Brot. Dorothea aß mit großem Appetit und dachte mit Schrecken daran, dass die frischen Zutaten nur für den Beginn der Reise bestimmt sein konnten. In den Wochen und Monaten danach, wenn das Schiff auf hoher See war und keinen Hafen anlief, würde der Speiseplan wesentlich eintöniger ausfallen.
Als alle satt waren, unterbreitete ein etwa vierzigjähriger Mann mit Pranken, die vermutlich kräftig zupacken konnten, lauthals einen Vorschlag, den die Erwachsenen mit Kopfnicken oder leisem Murmeln begrüßten. Jeder sollte seinen Namen nennen und kurz erzählen, woher er kam und warum er diese Reise angetreten hatte.
Er selbst stellte sich als Karl Reimann vor. Seine Frau Else und er stammten aus Boppard, zusammen mit den halbwüchsigen Söhnen Rufus und Robert sowie den vierjährigen Zwillingen Richard und Roswitha. Sie waren Bauern. Aufgrund mehrerer Missernten in den vergangenen Jahren hatten sie Schulden gemacht. Schließlich sahen sie keine andere Möglichkeit mehr, als ihre Land- und Viehwirtschaft zu verkaufen. Der Erlös reichte gerade für die Überfahrt. Nun wollten sie im Hochland von Costa Rica, im Valle Central, Land
Weitere Kostenlose Bücher