Das Land zwischen den Meeren
in aufrechter Haltung zu sehen. Kommen Sie, Fräulein Fassbender, jetzt wollen wir erst einmal frühstücken.«
Helene Kampmann hatte recht. Ihr Mann war nur noch ein Schatten, eine schmächtige, zerbrechlich wirkende Gestalt. Dorothea erinnerte sich an die Bettler mit den hohlwangigen Gesichtern, die ihr in den Straßen von Köln begegnet waren und für die sie immer eine Münze in ihrer Tasche bereitgehalten hatte. Ganz blass und teilnahmslos saß Erwin Kampmann am Tisch in der Kombüse, tunkte hin und wieder einen Zwieback in seinen Kräutertee. Jede Kaubewegung bedeutete erkennbar eine Anstrengung für ihn. Er hustete, und in dieses Geräusch mischte sich ein hohes, unregelmäßiges Pfeifen. Die drei Kinder schienen nichts von den Sorgen der Mutter zu bemerken. Sie löffelten lustlos ihre Hafergrütze, mäkelten über den zu dünnen Tee, der überdies nach Salzwasser schmeckte, und konnten es nicht erwarten, endlich vom Tisch aufzustehen und an Deck zu laufen, um sich die Zeit mit dem Ausprobieren von Seemannsknoten wie Platting, Kreuzkatning oder Affenfaust zu vertreiben.
Inzwischen hatte Dorothea erfahren, wer sich in den vergangenen Tagen so rührend um sie gekümmert hatte. Es war Elisabeth von Wilbrandt gewesen. Die bitteren Tropfen hatte die junge Adlige von zu Hause mitgebracht. Sie beruhten auf dem Geheimrezept einer alten Waldfrau, die die steiermärkischen Dörfler mit ihren Kräuteraufgüssen und Tinkturen zu heilen pflegte. Dorothea streute sich einige Rosinen in die Hafergrütze, aß trockenen, muffig schmeckenden Zwieback und freute sich darauf, endlich wieder an Deck zu stehen, das Tageslicht zu genießen und frische Meeresluft zu atmen.
Elisabeth legte Dorothea, die auf einer Backskiste am Besanmast saß, eine Hand auf die Schulter und lächelte ihr aufmunternd zu. Sie hatte sich Sorgen um die junge Mitreisende aus Köln gemacht, die vor sich hingefiebert und offenbar keinerlei Kraft mehr besessen hatte. Den anderen Frauen war es nur recht gewesen, dass sie sich um die Kranke gekümmert hatte. Schließlich hatte jede von ihnen genug Sorgen mit sich und ihren Familien.
»Jetzt gefallen Sie mir schon viel besser, Fräulein Fassbender. Sie haben auch wieder Farbe im Gesicht. Dabei lagen Sie wirklich schwer auf der Nase. Während des großen Sturmes vor der portugiesischen Küste wurden Sie seekrank, und dann kam noch ein böses Fieber hinzu. Ach, wie schön, dass wir wieder miteinander plaudern können! Es war grässlich langweilig ohne Sie.«
Sie knotete die Bänder ihres Hutes fest unter dem Kinn zusammen und lächelte einem Seemann zu, der soeben auf seinem Posten abgelöst worden war und sich in die Freiwache begeben wollte. Der rothaarige Kerl mit dem struppigen Bart war kein Mann, dem sie üblicherweise größere Beachtung geschenkt hätte. Eigentlich wirkte er recht grobschlächtig mit seiner tiefen Narbe auf der rechten Wange, seinem massigen Körper und dem schwerfälligen Gang. Doch er war ein Mann, und sie hatte Lust auf ein harmloses Wortgeplänkel.
Der Seemann näherte sich den beiden jungen Frauen und tippte sich an die Mütze. »Guten Morgen, die Damen. Welch ein Glanz auf unserem Schiff. Gestatten, Edgar Petersen, Obersteuermann. Wie kann ich Ihnen zu Diensten sein?«
Elisabeth stellte sich und ihre Begleiterin vor und schenkte Petersen ein Lächeln, dessen verführerische Wirkung sie schon oft erprobt hatte. Sie wollte wissen, wie weit dieser Offizier sich herausfordern ließ. »Sehr liebenswürdig, Ihr Angebot, Herr Offizier. Sie könnten doch einen Tanzabend an Bord organisieren. Oder uns mit Seemannsgeschichten unterhalten.«
»Bedaure, die Damen, das wird nicht möglich sein. Wir sind ein Frachtsegler. Meine Kameraden sind raue Kerle, die kennen sich nicht aus mit dem Umgang von Passagieren. Außerdem kann keiner von denen das Tanzbein schwingen, geschweige denn mit Musik aufwarten. Tja, und was so richtige, echte Seemannsgeschichten betrifft … nee, nee, das ist nichts für die Ohren von jungen Frauenspersonen.«
»Sie geben uns also einen Korb. Wie schade.« Elisabeth zog einen Schmollmund. »Aber vielleicht sind Sie einfach nur kein guter Geschichtenerzähler. Sollen wir es einmal bei einem Ihrer Kameraden versuchen? Bei dem gut aussehenden Segelmacher mit den veilchenblauen Augen womöglich?« Sie ließ ihr Schultertuch einige Handbreit tiefer rutschen und bedachte den Offizier mit einem unschuldsvollen Augenaufschlag. Dieser richtete sich kerzengerade auf und schob
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