Das Land zwischen den Meeren
Drängen ihres Mannes nachgegeben, und nun verfluchte sie den Tag, an dem sie den Fuß auf die Kaiser Ferdinand gesetzt hatte. Die anderen Frauen versuchten, sie zu beruhigen, aber auch bei Anna Meier und Else Reimann war mit jedem Schlingern des Schiffes wachsende Furcht zu spüren.
Dorothea wollte sich von dieser Angst nicht anstecken lassen und suchte Ablenkung. Dabei erwies Elisabeth von Wilbrandt sich als amüsante und kurzweilige Gesprächspartnerin. Schon beim Aufwachen freute Dorothea sich auf die gemeinsamen Spaziergänge nach den Mahlzeiten, die mittlerweile zu einem festen Ritual geworden waren. Die fast gleichaltrige Österreicherin war von ansteckender Fröhlichkeit und Unbekümmertheit. Sie erzählte von ihrer Kindheit in einem Dorf in den Bergen, von ihrer Cousine, die in Wien Hofdame im Dienst der Erzherzogin Sophie Friederike war. Elisabeth ließ sich von den Matrosen den Hof machen, und Dorothea bewunderte und beneidete sie im Stillen um ihren unerschütterlichen Optimismus und die Art, wie sie das Leben leichtnahm.
Die Kinder auf dem Schiff wurden nicht mehr so häufig von Heimweh geplagt wie noch zu Beginn der Reise. Meist spielten sie Fangen oder Verstecken, waren in einem Moment die besten Freunde, im nächsten erbitterte Feinde. Dann versuchte Dorothea, zu schlichten, sie durch Rätsel und Kniffelfragen abzulenken. Die Kinder hingen an ihren Lippen, ließen sich durch ihre Erzählungen in Märchen- und Zauberwelten entführen. Auch wenn sie demnächst für ein ganzes Jahr als Verkäuferin würde arbeiten müssen, war sie doch noch mit Leib und Seele Lehrerin, stellte sie mit Genugtuung fest.
Tagsüber vertrieben die Männer sich die Zeit mit Kartenspiel oder der Beobachtung des Meeres. Sie fachsimpelten mit den Seeleuten über Windstärken und Knoten, die Funktionsweise von Sextanten und Handlog oder lauschten Geschichten über Seeungeheuer, Stürme und Piratenüberfälle. Die drei Mütter nahmen ihr Strickzeug zur Hand oder besserten Kleidung aus, suchten die Haare ihrer Kinder nach Läusen ab und erzählten sich von dem Leben, das sie hinter sich gelassen hatten.
Die Reisenden der ersten Klasse, Erik Jensen und das Ehepaar Piet und Elfriede Behrens aus Lüneburg, blieben auf dem Vordeck unter sich und hielten sich von den übrigen Reisenden fern. Ganz so, als seien diese nicht der geeignete Umgang. Das Essen nahmen sie zusammen mit dem Kapitän und den oberen Mannschaftsgraden ein. Frau Behrens schien tiefen Abscheu den Kindern gegenüber zu hegen, die sich manchmal im Niedergang versteckten und sie mit Gejohle und Grimassen erschreckten oder hinter ihrem Rücken ihre Trippelschritte nachäfften.
Der Wind stand gut, das Schiff machte Fahrt. Längst schon hatten sie die Nordsee verlassen und den offenen Atlantik erreicht. Und dann verdunkelte sich eines Nachmittags innerhalb weniger Minuten der Himmel, und Sturm brauste auf. Windböen zerrten an den Segeln, riesige Wellen türmten sich vor dem Bug auf und brandeten über das Schiff hinweg. Die Matrosen kletterten in die Rahen und refften die Segel, brüllten sich die Kommandos zu. Verzweifelt klammerten die Passagiere sich an die Reling, um nicht über Bord gespült zu werden, während ihnen die Gischt ins Gesicht peitschte und ihre Kleidung durchnässte. Schritt für Schritt hangelten sie sich über die glitschigen Planken zum Niedergang am Achterdeck, wo sie in das dunkle, hin und her schwankende Innere hinabstolperten. Unter einer neuerlichen Riesenwelle schoss der Bug empor, um dann jäh wieder abzufallen. Einige der Reisenden, die sich im Kojengang befanden, wurden gegen die Decke gedrückt. Kinder schrien auf, jeder versuchte, seine Koje zu erreichen und sich in Sicherheit zu bringen.
Dorothea merkte, dass sich ihr Magen schmerzhaft zusammenkrampfte. Ein plötzlicher Würgereiz stieg in ihr auf. Sie hielt sich die Hand vor den Mund, wurde durch einen Schlag zu Boden geworfen und konnte gerade noch rechtzeitig nach einem Nachttopf unter den Kojen greifen, bevor sich ihr Mageninhalt entleerte. Schweiß trat ihr auf die Stirn, ihr wurde schwindelig. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie, dass sich auch Lotte und Anna Meier übergeben hatten. Geradewegs auf die Bodenbretter. Irgendjemand suchte nach einem Eimer und Lappen zum Aufwischen. Helene Kampmann klammerte sich kreidebleich mit der einen Hand an die Sprossenleiter, in der anderen hielt sie den Rosenkranz. Irgendwann lag Dorothea in ihrer Koje. Ringsum schwankte und drehte sich
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