Das Land zwischen den Meeren
trotzig das Kinn vor.
»Ich wollte ja nur verhindern, dass sich die Fräuleins nachts gruseln und nicht schlafen können. Und ich kann gut erzählen, das dürfen Sie mir glauben, verdammt gut sogar … Aber unser Kapitän sieht’s nicht gern, wenn einer von der Besatzung herumsteht und schwadroniert. Auf einem großen Schiff werden immer alle Hände gebraucht.«
Dieser Seemann schien überaus pflichtbewusst zu sein. Ein äußerst hartnäckiger Fall. Doch gerade das reizte Elisabeth, und sie gab sich nicht so leicht geschlagen. »Wir könnten doch an einem Abend, wenn Sie Dienst haben und der Kapitän in seiner Kajüte schläft, zu Ihnen auf die Kommandobrücke kommen. Dann werden wir sehen, ob es Ihnen gelingt, uns Angst einzujagen.«
Erst blinzelte der Seemann begriffsstutzig auf Elisabeth hinab, dann grinste er breit. »Aye, aye, Madam.« Er tippte sich abermals an die Mütze und verschwand durch den Niedergang.
»Der gute Mann wird sich mächtig anstrengen, um uns mit Schauergeschichten vom Klabautermann oder von untoten Piraten zu beeindrucken. Wollen wir wetten?« Elisabeth lachte leise in sich hinein. Ihr war nicht entgangen, dass Dorothea die Unterredung fast teilnahmslos verfolgt und gedankenverloren zum Horizont geblickt hatte. Überhaupt schien ihr die nur wenig jüngere Kölnerin ziemlich ernst und in sich gekehrt zu sein. Womöglich hütete Dorothea ein Geheimnis und hielt ihre wahren Gefühle wohlweislich zurück. Elisabeth war überzeugt, dass sich hinter der freundlichen und zurückhaltenden Art irgendetwas verbarg. Eine Leidenschaft, vielleicht auch eine große Traurigkeit, die sie in Schach hielt. Manchmal sprühten Funken aus Dorotheas wunderschönen blaugrauen Augen, dann wieder trübten sie sich in Sekundenschnelle.
Schon bei ihrer ersten Begegnung hatte Elisabeth die Mitreisende sympathisch gefunden. Sie mochte die feine, leise Art, wie die junge Frau redete und sich bewegte. Und auch ihre Schlagfertigkeit, wenn sich Widerspruch in ihr regte. Allerdings hatte Elisabeth die Begründung, warum Dorothea ausgerechnet nach Costa Rica auswanderte, nicht zu überzeugen vermocht. So als habe die junge Lehrerin ihre Erklärung auswendig gelernt. Gab es da irgendeine Vorgeschichte? Elisabeth nahm sich vor, die Wahrheit herauszufinden. Sie berührte Dorothea mit der Fingerspitze an der Schulter. »Verraten Sie mir, woran Sie in diesem Augenblick denken?«
Dorothea zuckte zusammen, als wäre sie bei einem verbotenen Tun ertappt worden. Sie schüttelte den Kopf und antwortete leichthin: »An nichts Besonderes … Aber was ich Sie schon immer fragen wollte, Fräulein von Wilbrandt: Wo kann man eigentlich rote Schuten kaufen? Ich habe Strohhüte in dieser Farbe noch nie gesehen.«
Die Vermutung bestätigte sich also – Dorothea wich aus, wollte ihre Gefühle nicht offenbaren. Brauchte vielleicht noch etwas Zeit. Elisabeth schmunzelte. »Ich bis vor Kurzem auch nicht. Aber ich habe durch meine Cousine in Wien eine Modistin kennengelernt, eine wahre Künstlerin, die ganz außergewöhnliche Hüte entwirft. Die Damen von Adel geben sich bei ihr die Türklinke in die Hand. Sie färbt Strohborten in den abenteuerlichsten Farben ein und verziert damit Hutkrempen. Und so hatte ich den Einfall, eine Schute ganz in Rot bei ihr zu bestellen. Sie können sich kaum vorstellen, wie sich die Leute bei uns im Örtchen die Hälse verrenkten, als ich zum ersten Mal mit diesem Hut aufkreuzte.«
»Wieso? Er steht Ihnen gut. Und passt wunderbar zu Ihrem dunklen Haar.«
»Danke für das Kompliment. Das hätten Sie mir in Gegenwart unseres Pfarrers machen sollen. Auf der Kanzel hat er gewettert, solch ein Hut sei ein Zeichen des Bösen und werde nachgerade den Teufel anlocken … Jetzt will ich aber rasch mein Tagebuch holen und unsere Begegnung mit dem Obersteuermann niederschreiben.«
Je weiter das Schiff sich von der nordafrikanischen Küste entfernte und den Atlantik in südwestlicher Richtung durchkreuzte, desto wärmer wurde es. Viele Passagiere stöhnten unter der Hitze und waren dankbar für jede kühlende Brise. Dorothea genoss die warme Luft, spähte hinaus auf den weiten Ozean, an den sie sich mittlerweile gewöhnt hatte und zu dem sie sich immer stärker hingezogen fühlte. Sie liebte den ungehinderten Blick bis zum Horizont und verspürte dabei eine ungewohnte Ruhe, eine wachsende Zuversicht.
Wenn irgend möglich, verbrachte sie ihre Zeit im Freien, um der Enge und den üblen Gerüchen der Kajüte zu
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