Das Land zwischen den Meeren
pachten und als Kleinbauern, als Campesinos,noch einmal ganz von vorn anfangen.
Hans und Anna Meier hatten in Koblenz gewohnt. Nachdem in den Jahren zuvor größere Aufträge für ihre Schreinerei, die sich seit hundertfünfzig Jahren in Familienbesitz befand, ausgeblieben waren, hatten sie schweren Herzens Haus und Werkstatt verkauft. Weit unter Preis, wie Anna Meier beklagte. Doch wenn Menschen nicht einmal genug Geld zum Essen hatten, wer dachte da noch an einen neuen Schrank oder einen Tisch mit Stühlen? Ihre beiden Kinder, die siebenjährige Klara und der doppelt so alte Max waren ihrem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten. Beide hatten seine hohe Stirn und die schmale, spitze Nase.
Aus Koblenz kamen auch Erwin und Helene Kampmann, die jüngere Schwester von Anna Meier. Zu ihnen gehörten die zwölfjährige Lotte sowie die ungefähr zwei Jahre älteren Söhne Peter und Paul. Das Familienoberhaupt war ein schmächtiges Männchen, dem die viel zu weite Kleidung um den knochigen Leib hing. Er war hohlwangig und bleich und stieß bei jedem Atemzug ein rasselndes Geräusch aus. Man hätte ihn eher für sechzig als für Anfang vierzig gehalten. Die beiden Söhne überragten den Vater um mehr als einen Kopf. Erwin Kampmann berichtete keuchend von seiner Sattlerei, die er hatte aufgeben müssen. Auch bei ihm waren zuletzt die Kunden ausgeblieben, ähnlich wie bei seinem Schwager Hans Meier. Das Geld für die Überfahrt hatten sie sich teilweise von Freunden leihen müssen und wollten es so schnell wie möglich zurückzahlen, wenn sie in der neuen Heimat erst einmal Fuß gefasst hätten.
Dorothea hörte nachdenklich zu. Es berührte sie, dass wirtschaftliche Not die Familien auf dieses Schiff getrieben hatte. Doch ihnen blieb wenigstens die Hoffnung auf eine bessere Zukunft für sich und für ihre Kinder. Als Erwin Kampmann geendet hatte, war die Reihe an ihr. Mit knappen Worten erklärte sie, sie vertrage das kühle Klima in den heimischen Breitengraden nicht und wolle sich eine Stelle als Hauslehrerin in der Hauptstadt von Costa Rica suchen. Von ihrem Abkommen mit Jensen mochte sie vorläufig nichts erzählen. Aus Scham, weil man sie bestohlen hatte, und auch wegen des peinlichen Umstandes, dass sie sich von einem Fremden das Geld für die Überfahrt hatte borgen müssen.
»Aber wird Ihre Familie Sie denn nicht vermissen?«
Ganz ruhig antwortete Dorothea auf die Frage von Anna Meier und hatte dabei das Gefühl, dass jedes ihrer Worte der Wahrheit entsprach. Einer traurigen Wahrheit. »Ich habe keine Familie.«
Dorothea erntete mitfühlende Blicke. Dann richteten sich alle Augen auf Elisabeth von Wilbrandt, die sich ein letztes Stückchen Brot in den Mund schob und mit einem kräftigen Schluck Bier nachspülte.
»Ich finde, wir sind eine muntere Gesellschaft und werden bestimmt viel Spaß miteinander haben. Über mich gibt es Folgendes zu sagen: Ich komme aus Österreich, aus der Steiermark, drei Tagesritte von Graz entfernt. Reich sind wir von Wilbrandts nicht, aber meine verstorbene Patentante hat mir eine kleine Erbschaft hinterlassen. Zu Hause habe ich mich immer gelangweilt. Jetzt will ich endlich einmal ein richtiges Abenteuer erleben. Indianer, wilde Tiere, rauchende Vulkane, reißende Flüsse … Wenn es mir in Costa Rica nicht gefällt, dann gehe ich in ein Kloster. Oder werde Schauspielerin am Burgtheater in Wien.«
Dorothea hörte mit einer Mischung aus Staunen und Bewunderung zu. Woher nur nahm diese junge Frau so viel Wagemut und Selbstsicherheit? Sie beschloss, es herauszufinden.
In den ersten Wochen blieb die See ruhig, ein maßvoller Wind trieb die Kaiser Ferdinand in westlicher Richtung durch den Ärmelkanal, in Sichtweite der weißen Felsen von Dover. Die Passagiere schimpften über die kümmerliche Verpflegung, die ewig gleichen Mahlzeiten aus Dörrfleisch, Bohnen-, Linsensuppe oder Pökelhering. Doch wo hätten sie sich beschweren sollen? Die Reederei Paulsen war weit weg, und der Kapitän kümmerte sich nicht um das leibliche Wohl der Reisenden im Zwischendeck. Er war für das Führen des Schiffes zuständig.
Wenn keines der Kinder zuhörte, erzählte Helene Kampmann den anderen Frauen, dass sie Nacht für Nacht träumte, mitten auf dem Meer werde Sturm aufkommen. Das Schiff werde untergehen und Mannschaft und Passagiere in die Tiefe reißen. Sie war fest davon überzeugt, niemals ans Ziel zu gelangen. Ohnehin wäre sie am liebsten in Deutschland geblieben. Doch irgendwann hatte sie dem
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